Bisexualität: „Das ist doch nur eine Phase!“

Dass Eva* nicht nur Jungs, sondern auch Mädchen mag, das wusste sie bereits im Kindergarten. Sie mochte Tobias. Der bekam von ihr einen feuchten Kinderkuss auf die Wange, als sie zusammen in der Legoecke saßen. Aber sie mochte eben auch Melanie. Der wollte sie ein Bild schenken, mit blauem Buntstift auf ein verknittertes Stück Tonpapier gemalt. Es zeigt zwei krakelige Strichfiguren mit langen Haaren, die sich an den Händen halten. Eva hat Melanie das Bild nie gegeben. „Ich war ziemlich verwirrt, als in unseren Malbüchern nur Männer und Frauen als Pärchen abgebildet waren. Ich habe es einfach nicht verstanden. War das ein Gesetz? Durfte man als Mädchen nur Jungs toll finden?“  Erst viel später, als Eva schon fast die Grundschule abgeschlossen hatte, redete sie mit ihrer Mutter darüber. „Die hat gelacht und gemeint, dass das schon okay sei. ‚Manche Mädchen mögen halt lieber Mädchen‘ hat sie gesagt. Und ich habe mir nur gedacht: Aber ich mag doch auch die Jungs!“

Wie viele Menschen ist Deutschland sich als bisexuell identifizieren, lässt sich schwer sagen. Eine Studie ist 2015 zu dem Schluss gekommen, dass keine Frau wirklich hetero-, sondern mindestens bisexuell oder lesbisch ist. Diese Annahme gründet darauf, dass Frauen häufiger von anderen Frauen angetörnt sind; ob das auch etwas darüber aussagt, ob man sich mit einer Person desselben Geschlechts eine (sexuelle) Beziehung vorstellen könnte, ist strittig. Die Forschungswebsite YouGov hat auf Selbstauskunft gesetzt und 1600 Personen zwischen 18 und 24 gefragt, für wie heterosexuell sie sich selbst halten. Das Ergebnis: gerade mal die Hälfte gab an, absolut heterosexuell zu sein, 43 Prozent dagegen ordneten sich irgendwo zwischen Homo- und Heterosexualität ein und tangieren so den bisexuellen Bereich.

Bisexualität passt nicht ins Raster

 

Die Geschichte der Bisexualität ist eine lange: Bereits Sigmund Freud geht in seinem Text Das Unbehagen in der Kultur von 1930 davon aus, dass der Mensch grundsätzlich bisexuell sei, dies aber von der Zivilisation nicht zugelassen werde. Auch der amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey hat im Zuge seines Kinsey-Reports die These aufgestellt, dass mindestens 90 Prozent der Bevölkerung bisexuelle Neigungen aufweisen. In der Antike war das sogar die Norm. „Sofern der Begriff Bisexualität nicht die doppelgeschlechtliche Physiologie eines Individuums bezeichnet, sondern sexuelles Verhalten, stellte sie weder im antiken Griechenland noch im antiken Rom ein Problelm dar“, schreibt Michael Groneberg in seinem Buch Der Mann als sexuelles Wesen. „Griechen und Römer kannten nicht den modernen Gegensatz von Hetero- und Homosexualität, den die Idee des bisexuellen Verhaltens voraussetzt, und sie hätten ihn gar nicht verstanden.“

Heute ist die Situation anders: es dominiert der Dualismus von Hetero- und Homosexualität. Bisexualität, dieses seltsame Zwischending, mag nicht ins Raster passen. Und genau das ist das Problem. „Ich erlebe sehr viel Unverständnis“, sagt Eva. „Es fällt vielen Leuten schwer, zu akzeptieren, dass ich mich sowohl von Männer, als auch von Frauen angezogen fühle.“ Der Spruch, den sie am häufigsten hört? Das ist doch nur eine Phase. „Das verletzt mich“, sagt Eva. „Ich habe keine Phase, und ich bin keine Lesbe, die sich erst noch ihrer Sexualität bewusst werden muss.“

 

Wieso müssen sexuelle Neigungen festgelegt sein?

 

Eva ist mittlerweile 22 und studiert in Stuttgart Mathematik und Sport auf Lehramt. Seit einem halben Jahr hat sie eine Freund, vorher war sie zwei Jahre lang mit einer Frau zusammen. „Versuch das mal, deinen Großeltern zu erklären. Die glauben, ich bin dauerhaft in der Pubertät gefangen und muss mich noch ausprobieren.“ Von Problemen wie diesen berichten viele Bisexuelle: wer sich in keine Schublade stecken lassen möchte, hat es schwer. Besonders seltsam: auch in homosexuellen und queeren Communitys werden Bisexuelle nicht ernst genommen. Die queere Rapperin Sookee spricht von „diesen schrecklichen unentschlossenen Bisexuellen“, der schwule Journalist Dan Savage schreibt in seiner Kolumne, dass Männer einfach nicht bi sein können. Diese Ausgrenzung hat dramatische Folgen: Bei bisexuellen Frauen ist die Suizidgefährdung 5,9-mal höher als bei heterosexuellen, bei bisexuellen Männern 6,3-mal höher als bei heterosexuellen.

„Ich habe den Eindruck, die Bisexuellen sind die neuen Homosexuellen. Die Vorurteile, die der Homosexualität gegenüber langsam abgebaut werden, werden nun auf die Bisexualität übertragen“, sagt Michel Dorais, der als Universitätsprofessor in Québec Seminare über die sexuelle Vielfalt abhält. „Bei diesem Thema gibt es viele Tabus. Aber wo steht geschrieben, dass sexuelle Vorlieben und Neigungen festgelegt sein müssen oder sich nicht verändern dürfen?“ Auch Regina Reinhart vom American Institute of Bisexuality in San Diego wünscht sich mehr Offenheit in Sachen Bisexualität. „Es ist wichtig, dass auch wir Bisexuellen Anerkennung bekommen. Bisexualität ist eine sexuelle Orientierung.“

 

Bisexuelle Frauen werden eher anerkannt

 

Besonders bisexuelle Männer erleben regelmäßig Anfeindungen. In der schwulen Community etwa würden Bi-Männer oftmals nicht ernst genommen, schreibt der stern. Sie müssten sich anhören, dass sie in Wirklichkeit gar nicht schwul seien, weil sie es ja doch lieber mit Frauen täten. „Oder dass sie nur zu feige seien, sich zu ihrem Schwulsein zu bekennen.“ Allgemein scheint weibliche Bisexualität anerkannter zu sein; das liegt vermutlich auch daran, dass knutschende Frauen in Pop- und Mainstreamkultur allgegenwärtig sind und bis zu einem gewissen Grad auch stereotype männliche Lustfantasien erfüllen. Madonnas und Britneys Kuss bei den MTV-Awards würde heute, dreizehn Jahre später, kaum noch jemanden jucken. Stellten wir uns die Situation mit zwei Männern vor, sähe die Sache ganz anders aus. Man denke nur an das letzte Albumcover des Rappers Bass Sultan Hengzt, auf dem sich zwei Männer küssten. Ein Shitstorm der Extraklasse ging über ihn nieder – was beweist, wie bigott ein Großteil der Rapszene ist. Knutschende Weiber? Sieht man in jedem Musikvideo. Knutschende Männer? Shitstorm incoming. „Das Verfließen der weiblichen Sexualität ist für viele Menschen nicht bedrohlich, weil sie die weibliche Sexualität ohnehin als biegsam und nachgiebig ansehen. Aber man kann dieses Konzept des Verfließens nicht auf die harte, pochende Sexualität des Mannes anwenden.“, schreibt Monica Heisey auf Vice. „Werdet erwachsen!“

Auch Eva ist es mittlerweile leid, dass sie sich ständig rechtfertigen muss. „Es ist eigentlich ganz einfach“, sagt sie. „Es ist mir egal, ob du ein Kerl oder eine Frau bist: wenn ich dich geil finde, dann finde ich dich geil.“ Oder, so formuliert es die Autorin Kerstin Münder: „Ich liebe den Menschen und nicht das Geschlecht“. So simpel ist das.

 

*Name von der Redaktion geändert

 

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Bildquelle: Gabriele Forcina via CC0 1.0