Die Toten kommen

Beerdigung von Flüchtlingen in Berlin: „Wissen Sie, was pietätlos ist?“

Von Markus Ehrlich

Der Friedhof in Berlin-Gatow, weit im Süden der Hauptstadt ist ein idyllischer Ort. Ein Ort, an dem Angehörige um ihre Liebsten trauern können, Abschied nehmen. Das von der Sonne ausgetrocknete Gras wächst knöchelhoch, alte Laubbäume spenden Schatten, an den Wegrändern wächst Klatschmohn. Seit den 80er-Jahren gibt es hier auch ein islamisches Grabfeld.

 

Anschuldigung: „Diese Frau wurde ermordet“

 

„Wir tragen heute eine mutige und starke Frau und ihre zwei Jahre alte Tochter zu Grabe“, sagt Stefan Pelzer, Aktivist beim Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) und Organisator des gleich stattfindenden Begräbnisses. Als er spricht, bebt seine Stimme, die Hände zittern. „Was ich Ihnen erzähle, ist keine Geschichte, sondern die Realität“. Das Schicksal der jungen Mutter ist exemplarisch für das vieler Flüchtlinge: Mit ihrem Ehemann und drei Kindern flüchtete sie vor dem Giftgas des Assad-Regimes aus dem syrischen Damaskus. Über den Sudan, Ägypten und Libyen gelangte die Familie schließlich in die Türkei – wo ihr eine meterdicke Mauer aus Stacheldraht den Weg versperrte. Auf dem Umweg über das Meer kenterte ihr Boot, die 34-Jährige und ihre zwei Jahre alte Tochter starben, der Ehemann und die zwei Söhne überlebten und warten nach Angaben des ZPS in Deutschland auf die Bewilligung ihrer Asylanträge. Zur Beerdigung kommen durfte die Familie allerdings nicht. Keine vorübergehende Aufhebung der Residenzpflicht möglich. „Diese Frau wurde ermordet“, sagt Pelzer. „Sie wurde auf dieses Boot gezwungen, nicht von Schleusern, sondern von den politisch Verantwortlichen in Europa.“

 

Forderung: „Ende des EU-Abriegelungskriegs“

 

Organisiert wird das Begräbnis vom ZPS. Die Aktivisten haben die Überreste der jungen Frau exhumiert und aus Italien nach Berlin geschafft, um sie hier unter dem Aktionsnamen „Die Toten kommen“ in Gatow menschenwürdig zu beerdigen. Heute ist nur der Anfang, weitere Begräbnisse werden folgen. „Wir werden so lange weiter bestatten, bis uns das Geld ausgeht“, sagt Justus Lenz. Finanziert wird die Aktion über Crowdfunding, fast 40.000 Euro hat das ZPS schon gesammelt. „Für mich ist, was gerade passiert, Massenmord“, sagt Lenz. „Wir werden alles tun, was nötig ist, um diesen Wahnsinn zu beenden.“

Lenz und seine Mitstreiter fordern „den sofortigen Fall der europäischen Mauer“ und das „Ende des EU-Abriegelungskriegs“. Am kommenden Sonntag steht die nächste skurrile Aktion an: Die Aktivisten planen den „Marsch der Entschlossenen“ und wollen das politische Berlin damit im Zentrum treffen: Auf dem Vorplatz des Kanzleramtes wollen sie einen Friedhof für namenlose Flüchtlinge errichten. Bagger zum Aufreißen des Betons sind bereits angefordert, Baupläne gezeichnet und Pressemitteilungen geschrieben.

 

Kritik: „Hart an der Grenze“

 

Heute sieht es auf dem Friedhof in Gatow anders aus als sonst. Weniger idyllisch, weniger ruhig. Ein paar Dutzend Trauernde und ebenso viele Journalisten bilden einen Halbkreis um die Öffnung im Boden. Hinter dem geöffneten Grab hängen die Flaggen einiger EU-Mitgliedsstaaten schlaff herunter. Die deutsche Fahne ist zu sehen, die italienische, die französische. Zwischen Flaggen und Grab ist eine mit rotem Teppich ausgelegte Ehrentribüne aufgebaut. Sie war für die 36 geladenen Ehrengäste gedacht, wird heute aber leer bleiben. Die Ehrengäste, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière, werden zu der Beerdigung nicht kommen.

Von Seiten der Politik kommt ohnehin wenig Gegenliebe für die Protestaktion. Als „hart an der Grenze“ bezeichnete sie die Chefin der Linkspartei Katja Kipping. „Grünen“-Politiker Volker Beck nannte sie gar „befremdlich und pietätlos“. Die Aktivisten bringt derartige Kritik in Rage. „Wissen Sie, was pietätlos ist?“, fragt Justus Lenz. „Menschen wochenlang in Müllsäcken übereinander zu stapeln und verschimmeln zu lassen.“ Einige Kritiker zweifeln die Echtheit der Aktion an. Ist im Sarg überhaupt eine Leiche oder ist alles nur inszeniert?

 

Lob: „Definitiv die Aktion des Jahres“

 

Bei einer Verkehrskontrolle in Bayern wurde das Transportfahrzeug mit den Leichen geprüft und die Särge durchleuchtet (wegen Verdachts auf Drogenmissbrauchs gegen den Fahrer). Auf ZEITjUNG-Nachfrage bestätigte die bayrische Polizei: In den Särgen lagen Leichen.

Neben negativer Kritik erhält das Zentrum für Politische Schönheit für seine Aktion aber auch Zuspruch. „Über die Art und Weise, wie bei dieser Aktion vorgegangen wird, kann man streiten“, sagt Martina Mauer vom Flüchtlingsrat Berlin. „Der Name ‚Die Toten kommen‘ beispielsweise, klingt für mich nach Gruselkabinett – trotzdem glaube ich, dass solche radikalen Aktionen notwendig sind.“ Auch im Social Media sind die Äußerungen eher positiv: „Definitiv die Aktion des Jahres“, postete ein User unter einen Beitrag des TV-Senders ZDF heuteplus zum Thema. „Das ist die provokativste und menschlichste Aktion, die ich bisher gesehen habe. Herzlichen Dank an alle Beteiligten“, äußerst sich eine andere Userin auf der Facebook-Seite des ZPS.

 

Perspektive: „Politische Schönheit“

 

Sechs Träger bringen, angeführt von Imam Abdallah Hajji, einen weißen Sarg über den mit Rosenblättern ausgelegten Kiesweg zur Öffnung im Boden und stellen ihn dort ab. Imam Hajji bittet die Gäste an einer Seite des Grabes, den Kreis zu öffnen. „Damit wir in Richtung Mekka beten können“, sagt er schüchtern lächelnd und wirkt dabei fast entschuldigend. Spätestens jetzt wird klar: Das hier ist kein Fake. Keiner brüllt: „April, April, alles nur Spaß“, keine Luftschlangen, keine Tröten. Was jetzt passiert ist eine feierliche, islamische Beerdigung. Obwohl sicher keiner der Anwesenden die Verstorbene persönlich gekannt hat, geht vielen die Herabsenkung des Sarges nah. Vor allem den Mitgliedern des ZPS ist die Rührung anzusehen. „Wenn wir etwas über Mut und Lebenswillen lernen können, dann von diesen Menschen“, sagt Justus Lenz. Imam Hajji spricht eine Sure aus dem Koran und richtet das Wort anschließend an die Anwesenden: „Menschen flüchten nicht aus Lust und Laune oder weil sie Brot und Geld suchen“, sagt er. „Sie suchen das Leben, weil es ihnen verweigert wurde.“

Justus Lenz versteht nicht, warum die Aktion des ZPS so kontrovers diskutiert wird und nicht das Massensterben an den EU-Außengrenzen. „Ich wünsche mir, dass Europa ein Ort von gigantischer, politischer Schönheit wird“, antwortet er auf die Frage nach seinen Wünschen. „Auch wenn das ziemlich pathetisch klingt“, fügt er lachend hinzu. „Was sollen denn unsere Nachkommen sonst von uns denken?“, fragt er. „Glauben wir wirklich, dass uns später jemand abkauft, dass wir nicht fähig waren, ein paar Hunderttausend Flüchtlinge auf die reichsten Länder der Erde zu verteilen?“ Die anwesenden Muslime beten gemeinsam mit Imam Hajji und schaufeln dann nach und nach etwas Erde auf den Sarg, einige werfen Blumen in die Öffnung. Imam Hajji wirbt für eine bessere Welt, für mehr Zusammenhalt – auch religionsübergreifend. „Alle Augen sind offen, wir sind nicht blind, aber manche Herzen sind blind“, sagt er. „Wir müssen uns ehrlich fragen: Was habe ich bisher getan?“, stellt der Imam die Frage, die seit Beginn der Trauerfeier über den Köpfen der Anwesenden zu schweben scheint.