Flüchtlinge: Das Leben der Anderen
Hell ist es in Deutschland, licht und freundlich – und geradezu gleißend am Münchner Hauptbahnhof. Dort stranden seit Wochen jeden Tag Hunderte von Flüchtlingen, oft Tausende, und werden dort herzlich in Empfang genommen. Freiwillige Helfer verteilen Wasser, Kleidung, Essen und oft auch ein bisschen Hoffnung. Hoffnung, dass von nun an alles besser wird. Das macht die Ankömmlinge glücklich und die Helfenden auch.
Nicht jeder kann ein Herzchirurg sein
Gott, seid ihr naiv!, geifern da schon die Ersten. Jan Fleischhauer warnt mit einer Kolumne im SPIEGEL – demselben Medium, das uns vor ein paar Wochen noch mit dem doppelten Titel „Helles Deutschland“ und „Dunkles Deutschland“ vor die Wahl stellte – vor einer „Idealisierung des Fremden“ und weist darauf hin, dass ja nicht alle, die zu uns kommen, „leistungswillig und perfekt ausgebildet“ sind. Zu sentimental, zu gefühlsdusselig sollen die meisten Deutschen im Umgang mit der aktuellen Flüchtlingskrise sein. Zu groß die Gefahr, dass sich Schmarotzer oder gar IS-Kämpfer bei uns einschleusen, die nur darauf aus sind, Vorteile auszunutzen – „Es liegt auf der Hand, dass nicht jeder, den wir aufnehmen, Herzchirurg sein kann“. Nun, Herr Fleischhauer ist das ja offensichtlich auch nicht. Sollten wir ihn deshalb abschieben?
Ich spreche mit Johannes Kiess, Rechtsextremismus-Forscher. Er ist Soziologe und Politologe an der Uni Leipzig und sagt: „Naiv ist die Hilfe nur aus einer Sicht: Die hinter jedem Flüchtling eine Gefahr für den eigenen Wohlstand, hinter jedem Muslim einen Terroristen und jedem Armen eine Belastung sieht.“ Helfen stärke einerseits die Zivilgesellschaft und fördere die Integration der Geflüchteten; außerdem sieht Kiess in der aktuellen Situation den Beweis dafür, dass ein System der Abschottung, wie es sich Orban in Ungarn oder Seehofer in Deutschland vorstellen, schlichtweg unrealistisch ist.
Der edle Wilde, der faule Wilde?
Dass Menschen anderen Menschen helfen, weil sie (zu) viel haben und die anderen (zu) wenig, ist doch aber noch keine Glorifizierung des Fremden, sondern schlichtweg eine humane Handlung – so sieht es auch der Soziologe. Doch extreme Emotionen bergen extremes Potential: Sehr schnell könne die Willkommenskultur wieder umschlagen, die Gegenbewegung – Abscheu und Unterdrückung – lauert dicht unter der Oberfläche, so Fleischhauer im SPIEGEL – auf gefühlsgeleitete Politik sei eben kein Verlass.
Orientalismus ist das Label für den über den Orient ausgeübten westlichen und kolonialistisch geprägten Herrschaftsdiskurs, den Edward Said in seiner gleichnamigen Schrift 1978 heftig kritisierte. Said belegte, dass der Orient ein imaginierter Schauplatz ist, den der Okzident nur über „das Andere“ konstruiert. Im Gegensatz zum westlich-abendländischen Menschen, rational und friedliebend, wird der Typus des Orientalen also als faul, korrupt und intuitiv-triebgesteuert dargestellt. Diese Strategie, die von Said an den Pranger gestellt wurde, dient in ähnlicher Weise auch heute noch als Nährboden für nationalistische Ressentiments – die sich zum Beispiel in Form von artig bejahenden bis rechtspopulistischen Kommentaren unter der SPIEGEL-Kolumne finden. Der „edle Wilde“, wie ihn Jean-Jacques Rousseau als Idealbild des freien, noch nicht von Zivilisation und Moderne verdorbenen Menschen heraufbeschwörte, wird zum unheimlichen Wilden, eingehüllt in Stofffetzen und ein Dutzend Klischees.
Die Krankheit nicht nur nach Symptomen bekämpfen
Es ist ein Klischee, dass jeder Flüchtling ein Masterstudium abschließen und artig in die Berufsmühle eintreten will, und es ist genauso ein Klischee, dass unter jedem Schleier ein IS-Schläfer steckt. Es gibt in Syrien und dem Kosovo Idioten, und es gibt in Deutschland haufenweise Idioten. Wer diese sind, weiß man immer erst hinterher, und das wird auch immer so bleiben. Aber es ist nicht Solidarität, nur Menschen in ein Land aufzunehmen, die der hiesigen Wirtschaft von Nutzen sein könnten. Es ist nicht Solidarität, bewundernswerten Einsatz noch nicht paralysierter Menschen als „Willkommenshysterie“ abzutun. Und genauso wenig, wie man in jedem Asylbewerber einen „Musterflüchtling“ sehen muss, wie Fleischhauer es kritisiert, muss man in jedem einen Terroristen wittern. Man kann Menschen nicht über einen Kamm scheren, weder in die eine noch in die andere Scheitelrichtung.
Doch was, wenn es einfach zu viele werden? Schon jetzt klagen die Helfer in München, der Lage nicht mehr Herr zu werden. Johannes Kiess sieht zuversichtlich in die Zukunft: für die Bankenrettung wurden 480 Milliarden Euro innerhalb einer Woche organisiert. Wenn sich die Bundesregierung mal dazu entscheidet, dass die Flüchtlingskrise eine Herausforderung ähnlichen Ausmaßes ist, sehe er nicht, warum sich Europa das nicht leisten können sollte. Die Mittel wären da. Aber bis jetzt bekämpfen wir diese Krankheit nur nach Symptomen und auch Kiess betont, wie wichtig es ist, „in Syrien und anderen Ländern die Fluchtursachen zu beseitigen“.
Ja, wir wissen wenig über die Menschen, die zu uns kommen und hier Asyl beantragen. Ihren Namen, Alter, Geschlecht, das Herkunftsland. Aber wenn wir ihnen, so wie es Herr Fleischhauer mit seiner skeptisch-konservativen Polemik suggeriert, keine Chance geben, es uns zu zeigen, werden wir auch nie erfahren, wie es wirklich ist – das Leben der Anderen.
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Bildquelle: Andreas Schalk unter cc by 2.0