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Warum heiraten wir, obwohl niemand mehr an die ewige Liebe glaubt?

Neulich hat meine Mutter mit Erstaunen zwei Dinge festgestellt. Erstens bin ich schon 25 (Surprise, surprise). Zweitens, sie war in diesem Alter längst verlobt. Ich nicht. Meine Antwort: „Es ist ein Traum, das Bett für sich alleine zu haben. Das wurde mir von Dutzenden Langzeitpärchen versichert. Außerdem bin ich bei dem Übermaß an Beständigkeit und Treue lieber Single“. Trotz dieses unfassbar ausgereiften Plädoyers heiraten immer mehr meiner sonst so promisken Mitmenschen – oder vielleicht gerade deswegen?

Wir, laut Michael Nast die „Generation Beziehungsunfähig“. Noch nie gab es so viele Scheidungskinder wie heute. Unsere Großeltern sagen über ihre Enkel, dass sie alles wegschmeißen, alles neu kaufen. Früher hätte man Dinge noch repariert. Wir sind eine Generation, in der sich Juristen mit Kurzzeitehen herumschlagen. Wir, Friends with Benefits und freiheitsliebende Exzentriker. Wir, die kaum wissen, wo wir morgen sein werden und Angst vor Verbindlichkeiten haben. Generation Y, die für ihre Work-Live-Balance einsteht, aber das Gleichgewicht in puncto Love and Sex nicht halten kann. Wir glauben an keinen Gott und erst recht nicht mehr an Politik. Und trotzdem versprechen wir uns einander – durch gute und durch schlechte Zeiten, bis dass der Tod uns scheidet.

 

Gegen die Statistik, mit dem Trend

 

Sicherlich, wir gehen seltener den Bund fürs Leben ein. Heute sind wir im Schnitt vier Jahre älter, unsere 26-jährigen Mütter haben damals unsere 30-jährigen Väter geheiratet. Außerdem geht jede dritte unserer Ehen in die Brüche. Doch die Statistik besagt auch, dass sich im letzten Jahr 3,3% mehr Paare getraut haben als im Jahr zuvor und 2,4% weniger geschieden. Wohl Grund genug, um aus dieser zarten Entwicklung Profit zu schlagen.

Denn dieser Trend wird direkt von Fashionindustrie und Medienkosmos antizipiert. Meine Highlights sind zum einen das Sat 1 TV-Format „Hochzeit auf den ersten Blick“. Dort treffen zwei Unbekannte erst vor dem Traualter aufeinander. Dieses Experiment ist niedlich bis wahnsinnig, binden sich doch zwei Menschen auf Basis eines Augenblicks für immer aneinander. Quasi Tinder Extrem, eben nur anstatt für eine Nacht für immer. Wem das zu naiv ist, kann alternativ bei „mein perfektes Hochzeitskleid“ mitfiebern, wenn es darum geht, selbiges mit dem Wert eines Kleinwagens zu ersteigern. Spannend…

Damit sind wir auch schon beim zweiten meiner Höhepunkte, der passenden Modelinie des Online Shops Asos. Ab März können wir also nicht nur Bikinis in unseren Warenkorb packen, sondern auch das essentiellste Utensil zum Heiraten: das Brautkleid. Fehlen nur noch ein Termin im Juni und Prinz Charming für den schönsten Tag eines Lebens. Doch das erklärt nicht, warum wir uns trotz miserabler Prognosen und der Freude an der Unabhängigkeit wieder mehr trauen.

 

Barfüßige Bohèmes und ein Funken Magie

 

Vielleicht liegt dies an einer Neudefinition der Symbolik. Weg von der Institution hin zum Individuum. Denn inzwischen sind Bräute nicht mehr weibliche Wesen, die dank Korsage und Schleppe bewegungslos die ganze Prozedur ausharren müssen. Längst ist eine Hochzeit ein Statement geworden. Wenn zwei Menschen der Generation Y sich trauen, dann bleiben sie ihrem Statut aus Selbstliebe und Individualismuszwang treu. Diese Paare wollen eine Party, die sie als besonders, ihre Liebe als einzigartig inszeniert und doch auch ihren Sinn nach Freiheit entspricht. So dürfen Eheversprechen auch barfuß als Bohème oder ganz simpel nur in Anwesenheit der Trauzeugen gegeben werden. Ob wir aber damit die Fantasie von der Prinzessin nicht einfach gegen eine andere eintauschen, darf jeder für sich entscheiden.

Bei alledem geht es wohl auch um ein bisschen Zauber. In unserer sonst so rationalen und kalkulierten Welt ist kaum mehr Platz für Illusionen. Wir wissen sehr wohl, dass wir nicht aussehen wie ein Topmodel und dass eine Weltreise ziemlich teuer wird, haben wir längst verstanden. Und ob uns jemand attraktiv findet, können wir ganz easy über Tinder herausfinden – wer braucht schon Schmetterlinge im Bauch und schweißnasse Hände. Unser Alltag ist vorhersehbar, unaufregend, nüchtern. Aber an einem Hochzeitstag dürfen wir wieder an die Liebe, an eine gemeinsame Zukunft, an das Ewige glauben.

Aber natürlich spiegelt dieses Fest auch unsere Wunschvorstellung vom Lieben wider. Es kombiniert Sinnlichkeit mit Idealismus und ist nach wie vor an romantischen Vorstellungen à la Walt Disney gebunden. Die Rauschhaftigkeit der Feier, Trunkenheit durch Liebesschwüre, essbares Glück in Form eines 5-Gänge-Menüs, Völlerei, Ausgelassenheit, Gemeinschaft, ein Auge für Details, Selbstbestimmung, denn nur wir entscheiden, wen und wann und wie wir heiraten, und schließlich ein Meer an Emotionen. Die Liebe so zu zelebrieren klingt ziemlich verlockend, aber ob das für die Hedonisten unserer Zeit reicht? Immerhin, ich habe ja noch fünf Jahre, bis mein Name in dieser Statistik auftreten müsste.