Narzissmus bei Kindern

Wie Eltern ihre Kinder zu Narzissten erziehen: Die Entwicklung der Selbstverliebtheit

„Mittlerweile sind nur noch drei bis vier Kinder einer Schulklasse normal.“ – Das schreibt die Kinder- und Jugendtherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger in ihrem Buch „Wie Kinder wachsen“. Ihrer Meinung nach leiden heute so gut wie alle Kinder an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung – und Schuld daran sind natürlich die Eltern. Sie ziehen ihre Sprösslinge wie kleine Könige auf und fördern damit die unaufhaltsame Entwicklung der Selbstverliebtheit. Das konnte auch mit einer in Amsterdam durchgeführten Studie bestätigt werden. Das internationale Forscherteam aus Psychologen und Erziehungswissenschaftlern befragte 565 niederländische Kinder und deren Eltern zwei Jahre lang alle sechs Monate.

Alles dreht sich um das Kind

Die Ergebnisse zeigten, dass die Kinder, die von ihren Eltern überproportional häufig als etwas „ganz Besonderes“ beschrieben wurden, später narzisstische Charaktere aufwiesen. Leibovici-Mühlberger zufolge sind selbstsüchtige Kinder jedoch keine Ausnahme mehr, sondern längst die Regel: Weil sie ihrer Meinung nach der Nabel der Welt sind, verhalten sie sich häufig aufsässig, ja geradezu tyrannisch. Auch deshalb hat sich die Zahl der psychotherapeutischen Behandlungen in Österreich seit 2005 verdoppelt. In den zahlreichen Sitzungen erlebte Leibovici-Mühlberger Kinder, die auch nach hunderten Zurechtweisungen keinen Zentimeter von ihrem strikten Verweigerungskurs abrücken und sogar Heranwachsende, die geradezu kaltherzig auftraten. Wie konnte es so weit kommen? Die Therapeutin glaubt, dass viele Eltern Angst haben, ihren Kindern durch strenge Regeln etwas zu verbauen oder zu zerstören. Das Kind soll tun können, was es will – mit all den Freiheiten und wunderbaren Zukunftsvisionen, die ihre Eltern selbst nicht leben konnten.

Es ist sicher wichtig, das eigene Kind zum Freigeist zu erziehen und ihm all die Möglichkeiten aufzuzeigen, die es hat. Doch oft hat dieses Verhalten den umgekehrten, unerwünschten Effekt – die Heranwachsenden schalten auf Durchzug, werden respektlos und wenden sich irgendwann von ihren Eltern ab. Und darin besteht das Problem dieser Gesellschaft: Junge Pubertierende fokussieren sich nicht mehr auf die Eltern, sondern auf minimal ältere Cliquenmitglieder. Doch von diesen können sie sich längst nicht so leiten lassen, wie von Mitgliedern der lebenserfahrenen, älteren Generation. Sie verweigern wertvolles Potential. Kulturhistorisch gesehen ist diese Entwicklung also nicht nur absurd, sondern auch gefährlich: Sie könnte zu einer immer narzisstischeren, brutaleren Vergesellschaftung führen.

Am Ende leiden vor allem die Eltern

Denn Menschen, die von klein auf gelernt haben, dass sie immer bekommen, was sie wollen, kennen weder Durchhaltevermögen noch Konzentration. Und am Ende sind es die Eltern, die ihre lockere Erziehungsmethode am meisten bereuten. Erste Auswirkungen könnten sich schon in der Schule zeigen: Plötzlich wird der Heranwachsende mit knallhartem Leistungsdruck konfrontiert und erlebt früher oder später zwangsläufig die erste Frustration.

Damit können die kleinen Narzissten einfach nicht umgehen – die Wut über die Ungerechtigkeit, dass die eigenen Leistungen nicht mehr in den Himmel gelobt werden, wird in der Schule aber auch bei den Eltern entladen. Irgendwann übertreiben sie es dann so sehr mit ihrer elterlichen Fürsorge, dass sie sich nicht mehr trauen, dem Kind zu sagen, dass sie es nicht ein Leben lang unterstützen werden.  Der Satz „Du solltest langsam eigenes Geld verdienen.“ wirkt dann wie ein plötzlicher Todesstoß. Der junge Erwachsene fühlt sich betrogen und im Stich gelassen, wurde er doch sein Leben lang auf Händen getragen. Leibovici-Mühlberger hat viele Kinder erlebt, die sich aufgrund solcher Erlebnisse ganz bewusst von ihren Eltern abwendeten. Es ist außerdem ein großer Irrglaube, dass Kinder ihre Eltern automatisch lieben, nur weil diese alles für sie tun. Wir brauchen keine Menschen, die uns mit ihrer Liebe erdrücken, wir brauchen Menschen, die uns Sicherheit geben und Grenzen aufzeigen. Sonst fühlen wir uns allein auf dieser Welt, allein mit uns und unseren Bedürfnissen. Und die sind schließlich das Wichtigste.

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Bildquelle: Roland Lakis unter cc-by-sa 2.0