Periscope Paris Attacks Live Stream

Periscope: Und plötzlich bist du mitten im Kriegsgebiet

Schreie hallen durch Straßen, verwackelte Filmaufnahmen fangen Fluchtszenen ein, im Hintergrund sind Maschinengewehrsalven zu hören. Die Tonkulisse mischt sich mit panischen Aufforderungen von Passanten, den Schauplatz zu verlassen. Es ist später Abend und Laternen erhellen die Wege, über die eine ganze Menschenmenge davonrennt.

Die beschriebene Szenerie ist nicht der Videospielreihe „Call of Duty” entnommen, auch keinem Til Schwieger-Tatort. Sie ist real und spielte sich am 13. November, gegen 22:30 Uhr in Paris ab.

Der twitter-User Stephane Hanache lief mit einem Go Pro-Kamera auf dem Kopf durch die Straßen der französischen Hauptstadt, als sich die Terroranschläge ereigneten. Er berichtete auf Periscope in Echtzeit von den Vorfällen in Paris.

 

Grassroots in Echtzeit

 

Periscope ist eine Videodirektübertragungs-App. Mit Hilfe der Anwendung können Nutzer weltweit mit ihren Smartphones oder Kameras auf Sendung gehen. Die Übertragung geschieht in Echtzeit und ist im Anschluss noch 24 Stunden lang abrufbar.

Am 13. November hatte Hanache innerhalb von wenigen Minuten mehr als 15.000 Follower auf seinem Stream. In einer gefährlichen und schwer einschätzbaren Situation – noch bevor Journalisten und Rundfunkanstalten ausrücken konnten – war der Periscope-User schon vor Ort. Die Zuschauer konnten in Form von Likes Zuspruch für die Übertragung äußern, außerdem auch die Sendung kommentieren oder Fragen stellen.

Im Fall von Hanache verband Periscope Graswurzel-Journalismus mit Echtzeitübertragungen. Durch Periscope wird jeder zum Reporter und kann Menschenmassen partizipativ einbinden, und das über Ländergrenzen und unterschiedliche Zeitzonen hinweg. Wie verändert eine Applikation wie Periscope die Berichterstattung? Ist sie womöglich die Zukunft des Journalismus?

 

Bild dir deinen Live-Stream

 

Doch nicht nur Privatpersonen wie Hanache, sondern auch die BILD greift immer häufiger auf den Live Streaming-Dienst zurück. So ging der Bild-Reporter Daniel Cremer beim Finale von „Germany’s Next Topmodel“ live auf Sendung, als die Mannheimer SAP-Arena, Austragungsort des Finales, wegen Terrorwarnungen evakuiert wurde. Und der Chefreporter Paul Ronzheimer nutzte die App im August 2015, als er eine Gruppe syrischer Flüchtlinge auf ihrer Reise von Griechenland nach Deutschland über mehrere Tage hinweg begleitete.

Heute gibt es den Begriff „Periscoportage“, der auf Ronzheimer zurückgeht, und er selbst sagt: „Keiner hat die Videos zu einem zwei- oder dreiminütigen Beitrag zusammengeschnitten. Für die Deutschen war es sehr gut zu sehen, mit welch Problemen die Flüchtlinge auf ihrer Reise konfrontiert werden.“ Mit seinen Videoformaten hat es Ronzheimer mehr als 100.000 Menschen erreich und in internationale Medien geschafft; die Bild-Zeitung nutzt Periscope so häufig wie kein anderes deutschen Medium. Zuletzt streamte das Springer-Blatt 24 Stunden live aus der Redaktion und gab den Zuschauern somit einen Einblick in den Arbeitsalltag.

 

Die Zukunft wird live gestreamt werden

 

Der Nutzen von Periscope für die Bevölkerung ist nicht von der Hand zu weisen. Die Möglichkeit, unmittel- und nahbar von Geschehnissen zu berichten, sind der Grund, weshalb die von Kayvon Beykpour und Joe Bernstein entwickelte Anwendung zur Apple App of the Year 2015 gekürt wurde. Im März 2015 wurde Periscope vom Kurznachrichtendienst twitter aufgekauft. Heute sagt beispielsweise FOCUS-Chefredakteur Ulrich Reitz: „Ich bin mir sicher, dass Live-Streaming den Journalismus verändern wird.“

Die Vorteile von einer App wie Periscope liegen auf der Hand: Durch die Applikation kann jeder zum Journalisten werden, er ist für den Konsumenten fassbar. Seine Berichterstattung unterliegt dabei keinen Tabus, redaktionellen Richtlinien oder abweichenden Meinungen von Vorgesetzten. Auf Periscope zeigt sich aber auch die im Zusammenhang mit Digitalisierung viel zitierte Schwarmintelligenz: User, die einen Internetzugang und ein Smartphone besitzen, sind überall auf der Welt verteilt – und im Zweifel schneller als Redaktionen, die er an den Einsatzort gelangen müssen. Zusätzlich sind die gesendeten Bewegtbilder nahezu deckungsgleich mit dem Blickfeld des Übertragenden und durch die Kommentar- und Likefunktionen werden Zuschauer zur Interaktion ermutigt. Periscope ist die journalistische Antwort auf die Digitalisierung unserer Medienwelt.

Auslandskorrespondenten und professionelle Journalisten wird Periscope trotzdem nicht ersetzen können. Berichterstattung in Echtzeit macht noch niemanden zu einem Kommentator oder Analytiker, der Zusammenhänge begreifen und Meinungen formulieren kann. So gesehen sollte der klassische Journalismus von Anwendungen wie Periscope profitieren: Durch Streams können sich Journalisten einen Blick von der Lage verschaffen und zu einer ersten Einschätzung der Situation vor Ort gelangen, bevor sie sich selbst dorthin begeben. Stephane Hanache jedenfalls rannte in der Nacht vom 13. November zwischenzeitlich um sein Leben. Tausenden von Zuschauern konnte er einen authentischen Eindruck der Ausnahmesituation in Paris verschaffen. Auf die vielen Fragen der Zuschauer hatte er aber zumeist keine Antwort.

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Bildquelle: Guillaume Highwire unter CC by 2.0