Wiesnzeit: Busy Season für das Rotlichtmilieu
Wiesn bedeutet Dauerparty. Bier in Strömen, Mädels und Boys in schnieken Trachten und Gäste aus der ganzen Welt – eine Riesengaudi, die selbst in Australien bekannt ist. Ausgebuchte Hotels, überfüllte U-Bahnen und Besoffene in den frühen Mittagsstunden, all das gehört einfach dazu – man kann sie nur lieben oder hassen, diese Wiesn. Doch nicht nur das Hotelgewerbe profitiert enorm von den feierwütigen Menschenmassen, die jedes Jahr aufs Neue ins schöne München pilgern, um mal wieder so richtig einen drauf zu machen. Auch das Rotlichtmilieu erfährt zur Wiesnzeit einen regelrechten Boom, denn in diesen zwei Wochen arbeiten fast doppelt so viele Prostituierte in München. ZEITjUNG wollte dem Thema „Prostitution zur Wiesnzeit“ auf den Grund gehen. Die Paar- und Sexualtherapeutin Dr. med. Heike Melzer gibt uns einen Einblick in dieses Thema.
Jährlich registrieren sich 2500-2800 Prostituierte
Anders als in vielen anderen Ländern können Prostituierte in Deutschland legal arbeiten. Sie müssen sich lediglich bei der Polizei registrieren und können ihren Arbeitstag im Bordell bestreiten – wie der Bäcker in seiner Backstube eben auch. Scheint so, als könnte man auch die Prostitution – wie eigentlich alles in Deutschland – einfach bürokratisieren. Werner Kraus, Pressesprecher der Polizei München, berichtet gegenüber ZEITjUNG, dass auch dieses Jahr wieder erwartet wird, dass sich die Zahl der Prostituierten zum Oktoberfest verdoppelt. Damit der Schutz der Damen sichergestellt wird, muss sich jedes Mädel auf die Sitte begeben, um sich offiziell registrieren zu lassen. „Da sind die Bordellbetreiber auch stark hinterher, dass die Frauen ordnungsgemäß registriert werden.“ Wir wollten wissen, was die Polizei denn so alles unternimmt, damit miese Zuhälter erst gar keine Gelegenheit bekommen, junge Mädels auszubeuten. „Zur Wiesnzeit setzen wir verstärkt Kontrollen ein, in verschiedenen Etablissement und gewissen Bars. Falls uns irgendetwas komisch vorkommt, können wir die Frau auch mit auf die Wache nehmen, damit eine Vertrauensbasis aufgebaut werden kann. Es gibt natürlich keine hundertprozentigen Schutz und die Dunkelziffer ist natürlich unbekannt, aber wir tun unser Bestes“, erklärt Kraus.
Die Frauen kommen aus ganz Europa eingeflogen
Melzer sieht die ganze Angelegenheit etwas kritischer. Sie ist davon überzeigt, dass die Dunkelziffer von Gelegenheitsprostituierten hoch ist. Auf Plattformen wie „kaufmich.com“ oder „gesext.de“ können Freier die Serviceleistungen der illegal arbeitenden Frauen in Anspruch nehmen. „Sicher ist, dass ein Teil der Frauen zu sexuellen Dienstleistungen unter Gewalt und Drohungen gezwungen werden, vor allem junge, 18-25-jährige Mädchen, die aus Ländern mit schlechten wirtschaftlichen Situationen kommen und mit falschen Versprechungen angeworben werden“, so Melzer. Der Innenstadtbereich in München zählt auch zur Wiesnzeit zum Sperrbezirk, dennoch kann die Therapeutin nicht ausschließen, dass Sexarbeiterinnen ihre Dienste auch illegal im Festzelt anbieten.
Gelegenheitsprostitution: Sex gegen Geld wirkt mit steigendem Pegel immer attraktiver
Die Expertin offenbart uns noch eine andere Form der Prostitution: Die Gelegenheitsprostitution. Für viele Studentinnen und Auszubildende eine leichte Gelegenheit, schnell ein paar Euro nebenbei zu verdienen – wahrscheinlich wesentlich lukrativer als jeder Kellnerjob. „Auch bei Frauen fallen durch Alkohol die Hemmungen. Dadurch rücken manchmal moralische Skrupel in den Hintergrund und finanziell motivierte sexuelle Handlungen in einen vorstellbaren Bereich“, erläutert Melzer. Durch den übermäßigen Alkoholgenuss wird also sämtliches Schamgefühl übersoffen und das sexuelle Verlangen steigt enorm; allerdings nur bis zur zweiten Maß, danach wirkt der Alkohol weniger stimulierend und enthemmend, erklärt Melzer: „Alles darüber hinaus führt eher zu einer Potenzminderung, Erbrechen und Kontrollverlust. Ab der dritten Maß sollte niemand mehr ein Bordell aufsuchen, da man als Freier nicht wirklich mehr zum Zuge kommen wird.“ Man sollte doch eigentlich meinen, dass gerade auf den Wiesn die Suche nach einem Sexpartner nicht allzu schwer sein sollte, wenn man bedenkt, wie viel Liter Bier dort jährlich fließen. Verwunderlich also, dass es trotzdem so viele Männer in die Bordelle zieht.
Männer fühlen sich in Lederhosen deutlich animalischer
Heike Melzer kann ZEITjUNG auch dieses Phänomen erklären. Durch die Dirndl werden die weiblichen Reize natürlich so richtig in Szene gesetzt, da kann so manches Dekolleté die Männer schon mal ordentlich ins Schwitzen bringen: „Die Dirndl stellen die Brüste zur Schau und so mancher Mann fühlt sich in Lederhosen einfach deutlich animalischer. Fremdknutschen und unbeobachtete Gelüste fernab von der eigenen Partnerin sind keine Seltenheit, denn ein wenig Sex gehört zum Oktoberfest einfach dazu“, erklärt Melzer. Da nicht jeder im Festzelt fündig wird, geht es häufig zu den „After-Wiesn“ ins Bordell. „Die meisten Männer, die Prostituierte aufsuchen, leben in festen Partnerschaften und von den Wiesn-Bettgeschichten erfahren die Partnerinnen in der Regel nicht.“
Prostituierte und Freier verbindet eins: Selbstzweifel
So ganz folgenlos kann der Verkauf des eigenen Körpers doch an niemanden vorbeigehen – wird es auch nicht, denn bedenkenlos kann keine Frau diesen Beruf ausführen. Auch dieses Gewerbe bleibt von den Gesetzen der freien Marktwirtschaft nicht verschont: „Der Preisdruck und die Konkurrenz, teilweise Unerfahrenheit und das Milieu führen zu unsicheren Sexpraktiken, zu denen zum Beispiel ungeschützter Oralsex gehört. Trotz Kondompflicht werden ‚alles ohne‘ Praktiken nachgefragt und auch angeboten, alles eine Frage des Geldes. Die hohe Anzahl an wechselnden Geschlechtspartnern ist oftmals nur mit entsprechenden Drogen und Alkohol zu ertragen. Prostituierte berichten darüber, wie sie während der Arbeit einen Teil ihrer Persönlichkeit abspalten, um nicht traumatisiert zu werden. Prostituierte und Freier verbindet eins: Selbstzweifel. Scheinbar findet hier kurzfristig eine Aufwertung statt: die Sexarbeiterin bekommt Geld für die Dienste, der Freier bekommt Triebbefriedigung und ein gewisses Schauspiel geboten. Durch die Geldübergabe wird der Akt ‚entwertet‘. Am Ende bleibt eine innere Leere sowie Ruh- und Rastlosigkeit…das Spiel beginnt wieder von vorn – sowohl bei den Sexarbeiterinnen, als auch bei den Freiern. Beiden gemeinsam bleibt die Schwierigkeit, aus dem Milieu auszusteigen – und die Lüge ihrem Umfeld gegenüber.“