Reisen Selbstfindung Kritik

Warum Reisen nicht zwangsläufig zur Selbstfindung führt

Eine neue Volkskrankheit greift um sich und die Generation Y ist die Hauptbetroffene. Die Wanderlust ist ausgebrochen und macht vor niemandem zwischen 18 und Ende 30 Halt. Fernreisen nach dem Schulabschluss oder in den Semesterferien sind mittlerweile fast so verpflichtend wie ein Bachelor oder Master-Titel, den viel beschworenen Tausenden Möglichkeiten, die uns offen stehen, sei Dank. Das Reisefieber wird hauptsächlich über Instagram, Facebook und Snapchat übertragen.

Tagtäglich wird man darüber informiert, in welchen Ecken der Welt sich Arbeitskollegen, Kommilitonen, Freunde oder ehemalige Klassenkameraden gerade aufhalten. Wenn man sich frühmorgens seinen Weg durch die U-Bahn drängelt, um durch Regen oder Schnee zur Arbeit oder in die Uni zu hetzen, ist es selbsterklärend, dass uns Instagram Posts von den Philippinen, aus dem peruanischen Hochland oder den Seychellen neidisch und unzufrieden machen und wir uns fragen, warum um alles in der Welt wir eigentlich hier in der Heimat bleiben, wo uns doch die ganze Welt offen steht.

 

Warum Reisen nicht der heilige Gral sind

 

Oft beschleicht einen das Gefühl, dass sich die Gründe, aus denen die Leute reisen, geändert haben. Es geht nicht mehr nur darum, zwei Wochen Urlaub am Strand zu verbringen, es geht um viel mehr. Um Bewusstseins- und Horizonterweiterung. Oder, um es in schönster Gen-Y-Manier auszudrücken: um Selbstfindung. Wir reisen also nicht mehr, um mal ein bisschen in der Sonne zu entspannen oder etwas von der Welt zu sehen. Wir reisen, weil wir irgendwie das Gefühl haben, reisen zu müssen. Weil es gut für den Lebenslauf ist, gut fürs Facebook-Profil und vor allem: gut für unseren Status. Was der Generation unserer Eltern der Porsche war, ist uns die Weltkarte im Zimmer, mit Pinnnadeln auf jedem Kontinent. Davon ein Foto gemacht, den Nashville-Filter draufgepackt, und fertig ist der Ruf vom weltoffenen Globetrotter.

Als wahrer Weltenbummler gilt natürlich nicht, wer eben kurz nach Italien oder Schweden jettet, die Fernreise muss es sein, die unser Bewusstsein erweitert und uns zu uns selbst finden lässt. Wir wollen sehen, was so in den Favelas von Brasilien geht und wie es sich eigentlich in so einer Township in Südafrika lebt. Dabei ist es uns besonders wichtig, kein Tourist zu sein. Mit einem Touristen verwechselt zu werden, ist eine Beleidigung für jeden Backpacker. Mit Rucksack und Isomatte bewaffnet, machen wir uns auf, in neue Kulturen einzutauchen, fernab von jeglichem Luxus, wie Matratzen oder Internet – um nach ein paar Wochen wieder zuhause zu sitzen und die Reisefotos von der Spiegelreflexkamera am MacBook vorzuzeigen. Natürlich ist es nicht verwerflich, ein paar Monate auf unseren gewohnten Komfort und Überfluss zu verzichten, aber hilft uns das wirklich, zu uns selbst zu finden?

Was können wir aus zwei Monaten Backpacking lernen, außer, wie verdammt gut wir es eigentlich in Deutschland haben? Wie findet man sich selbst in einer Kultur, die so gar nichts mit der eigenen zu tun hat? Was nimmt man für sein eigenes Leben mit, wenn man für 75 Cent in einem Tuk Tuk fährt oder sich in Peru von Inka bekochen lässt? Natürlich sind das alles mit Sicherheit sehr bereichernde Erfahrungen, ob man dadurch aber zu sich selbst findet oder die Veränderung seines Lebens vollzieht, ist fraglich. Wie kann man während einer Reise, in der man von Tausenden Eindrücken überwältigt und andauernd reizüberflutet ist, herausfinden, was man vom Leben will oder wer man eigentlich ist? Wer ist man dann zuhause, wenn man kein Reisender mehr ist?

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Freiheit – Der ultimative Schlüssel zum Glück?

 

Irgendwann hat sich in unseren Köpfen diese Idee eingepflanzt: Je mehr wir reisen und von der Welt sehen, desto bessere Menschen werden wir. Reisen macht uns erfahrener, weiser, kultivierter. Unser Horizont erweitert sich, die Prioritäten verschieben sich, wir sind an mehr als nur einem Platz zuhause. Und dadurch werden wir zu einer besseren Version unserer selbst. Da ist mit Sicherheit viel Wahres dran. Wenn wir also für immer reisen und damit unseren Lebensunterhalt verdienen könnten, wären wir dann glücklicher? Würden wir Antworten auf unsere Fragen finden? Eine Zeit lang bestimmt. Weil wir uns irgendwie größer fühlen, unbesiegbar und weltgewandt. Macht uns die Sinnsuche auf Dauer nicht einfach viel anfälliger für noch mehr Fragen, die wir uns zum Leben stellen? Wie kann man jemals zur Ruhe kommen, wenn man kein Ziel hat? Wie soll man irgendwo ankommen, wenn man theoretisch überall hingehen könnte?

„Das Unterwegs-Sein wird gerne als Sehnsuchtszustand verklärt. Nur die praktischen Reiseabläufe sind oft ermüdend und ernüchternd. Man stellt fest, das Reisen per se auch kein dauerhaftes Glück bedeutet, weil die euphorischen Momente wie sonst auch im Leben nur punktuell auftreten“, sagt der Reiseblogger Philipp Laage dem Spiegel. Auf dem Reiseblog Reisedepeschen.de erzählt er weiter, dass das gewöhnliche, zeitbeschränkte Reisen keinen besseren oder glücklicheren Menschen aus einem mache. „Es ändert meist auch nur wenig an deiner Haltung. Man trägt seine Sorgen und seine großen Fragen an das Leben im Rucksack durch die Welt. Im besten Fall vergisst man sie eine Weile. Aber sie verschwinden nicht. Es sind die Dinge, die wir jeden Tag tun, die den größten Unterschied in unserem Leben machen. Und die wirklich langfristig zu einer größeren Zufriedenheit mit unserem für sich genommen unfassbar privilegierten Leben beitragen. Es ist nicht das einmalige Erlebnis, das Außergewöhnliche, das Extrem. Sondern die Beständigkeit, das Alltägliche, die konstante Arbeit an sich selbst“.

Reisen ist also mit Sicherheit schön und wichtig und wir können uns glücklich schätzen, dass es für die meisten von uns relativ leicht ist, sich zwei Monate Backpacking durch Asien oder Südamerika zu erarbeiten. Vielleicht sollten wir aber damit aufhören, das Reisen mit derart überzogenen Ansprüchen zu überladen und es einfach als das sehen was es ist: Als großes Vergnügen und als Möglichkeit, andere Kulturen und Lebensarten kennen zu lernen. Und nicht als Allheilmittel gegen Sinnkrisen, als notwendigen Schritt zur Selbstfindung oder als Schlüssel zum Glück.

 

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Titelbild: Lilit Matevosyan unter CC by 2.0