Schluss mit der Hygiene-Hysterie!

Die deutsche Autobahn. Eine historisch nicht unumstrittene, aber weltberühmte Institution und Schauplatz meiner neuesten Erkenntnis über unsere aktuellen Gesellschaftsneurosen. Mein Auto-Alter-Ego mit Jogginghose und assligen Haaren wirft während einer Rast an der A9 zum gefühlt tausendsten Mal 70 Cent in einen freundlichen Automaten, um durch ein sich sodann öffnendes Drehkreuz in ein keimfreies Paralleluniversum namens SaniFair zu schreiten. Ein Reich der Sauberkeit, dessen Regenten einiges von gut platzierter Propaganda verstehen – denn als ich mich auf den blitzblanken WC-Sitz niedergelassen habe, prangt vor meinen Augen ein SaniFair-Wahlplakat, das mich mit dem Versprechen „berührungsfreier Armaturen“ locken will.

Und tatsächlich muss ich nur ein bisschen vor einer Edelstahl-Fläche über dem Klo herum wedeln, dem Wasserhahn ein wenig Luft zu fächern und dem Handtrockner zuwinken, damit diese magischen Wesen diverse Reinigungs- und Desinfektionsprozesse in Gang setzen. Mein Gott, berührungsfreie Armaturen, schöne neue Welt. Ich kann leider überhaupt nicht umhin, das absolut albern zu finden. Haben wir denn echt so viel Angst voreinander? Kann man mit unserer Hygiene-Hysterie inzwischen so gut Geld verdienen?

 

Über der Klobrille schweben

 

Man kann. Schließlich wird es auf Akademikerparties um die 25 auch ein immer beliebteres Small-Talk-Thema, die „Tut ihr oder tut ihr es nicht“-Frage zu stellen. Und nein, es geht hier nicht um Spermaschlucken am Ende eines erfolgreiche Fellatio, sondern um die Frage, wer der anwesenden Damen sich denn allen Ernstes noch auf den Sitz einer fremden Toilette setzt. Das gute an diesem Thema ist, dass sich daran meist ein sehr intensives Gespräch anschließt, wie man mit den anatomischen Voraussetzungen einer Frau am Besten stehend oder knapp über dem Sitz schwebend zielgerichtet und dennoch entspannt pinkeln kann – zum Glück machen hier alle Yoga, grüß dich, Powerhouse.

Kommt nur mir das unlogisch vor? Oder sind nicht die elegant und keimfrei über der Toilette schwebenden genau die Gleichen, die in der Ubahn dann fröhlich den Zungen-Poledance an der Stange auspacken? Die mit dem Bio-Antibacterial-Gel (for super soft hands) auf dem Granit-Waschbecken nicht auch diejenigen, die um 6 Uhr morgens in Hinterhöfen Blowjobs an Dudes verteilen, die man fünf Minuten vorher in einem schlecht beleuchteten Raum kennengelernt hat? Übrigens, ohne zu wissen wo der Glückliche sein bestes Stück vorher schon überall reingesteckt hat, wobei eine andere Vagina dabei ja nicht mal das größte Übel wäre. Also, nicht dass ich jetzt etwas gegen diese Form der Geselligkeit hätte, ich finde es einfach nur ein bisschen inkonsequent, dann nicht auch das Stück Wiener Würstchen aufzuessen, dass dir in deinem Schlafzimmer gerade auf den Boden gefallen ist.

 

Geld verdienen mit Körperflüssigkeiten

 

Überhaupt riecht die in der Öffentlichkeit etablierte Hygiene-Hysterie schon sehr danach, dass irgendjemand sehr viel Geld damit verdient, den Menschen Angst vor den Körpern ihrer Artgenossen zu machen. Denn während ein Ein-Euro-Jobber, der nach jeder U-Bahn-Station die Pole mit einem Sagrotan-Tuch abwischt, Kosten verursachen würde, verdient sich SaniFair mit den vor den Armaturen Ausdruckstanz veranstaltenden Kunden ein goldenes Desinfektionsspray.

Was dabei herauskommt ist ein durch Werbung und Medien propagiertes, relativ gestörtes Verhältnis zu Körperflüssigkeiten, unter dem besonders Frauen zu leiden haben. Denn irgendjemand hat den Geruch, äh, das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Damen sich nur in Toiletten begeben, um Kloschüsseln mit Rosenblättern zu dekorieren, keine Intimbehaarung und keine Schweißdrüsen besitzen und so auch in Extremsituationen wie Sex, Saunabesuch und Bergbesteigung glatt und gut aussehen.

 

Liebe ist, wenn es Eigengeruch ist

 

Oh, wohin sind nur die good old times verschwunden, in denen der attraktive Bursche sich vor dem Date geduscht, rasiert, geaftershaved hat und anschließend noch mal ’ne Viertelstunde Holz gehackt hat, um möglichst verführerisch zu riechen? Denn eigentlich hat die Natur sich diese ganzen Körperflüssigkeiten ja eigentlich mal ausgedacht, um uns alle ein bisschen geil aufeinander zu machen. Oder wie es Charlotte Roche, die große Matrone der Unhygiene in „Feuchtgebiete“ ausdrückt: „Wenn man Schwänze, Sperma und Smegma ekelhaft findet, kann man es mit dem Sex auch direkt bleiben lassen“. Hell yeah.

Und Sex mögen wir doch eigentlich alle ganz gerne, also hört doch auf, euch im Alltag so hysterisch machen zu lassen. Aus Staub bist du gemacht, zu Staub wirst du werden, stell dich nicht so an, Dreck ist schließlich gesund. Das hat übrigens auch Gwyneth Paltrow erkannt, die laut Intouch „ihre Ansichten dazu komplett überdacht hat“ und ihre Kinder zu Gunsten derer Immunsysteme jetzt auch mal im Dreck spielen lässt. Na, wenn das so ist!

 

 

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Bildquelle: Matthew Kane unter cc0 1.0