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Selbstversuch: Ein Leben ohne Nestlé, Coca-Cola und Co.

Von Agnes von Laffert

K.I.Z. rappen davon, Nestlé von den Feldern zu jagen, makabere Witze über Kinderschokolade hört man oft genug und selbst wer ZDF-Dokus oder Greenpeace eher meidet, dürfte sich also inzwischen darüber bewusst sein, dass wir viele unserer Leckereien leider nicht einer glücklichen lila Milka-Kuh oder gar dem Nespresso trinkenden George Clooney zu verdanken haben, sondern Millionen von hart arbeitenden Menschen. Menschen, die Lebensmittel unter oft unmenschlichen Bedingungen herstellen – und das allein für unseren Genuss. Wieso tragen wir also durch unseren Einkauf bei fraglichen Konzernen noch zu diesem Umstand bei? Die Frage habe Ich mir mehr als einmal gestellt – und schließlich gedacht, es müsse doch auch anders gehen. Ich starte den Selbstversuch: Ein Leben ohne Nestlé, Coca-Cola und andere Industriehaie.

 

Wird schon nicht so schwer sein…

 

Mein Experiment beginnt mit intensiver Recherche und Nächten voller Dokus (von ‚Schmutzige Schokolade’ bis ‚Bottled Life’) bis ich schließlich eine Art Blacklist erstellt habe: mit all den großen Namen, die immer wieder wegen verschiedenster Gründe in der Kritik oder sogar vor Gericht standen – Nestlé, Coca-Cola, Mondelez, Mars, Ferrero, Unilever… Bei ihnen allen scheint Ausbeutung der Arbeiter und Missachtung jeglicher Moral zugunsten der Umsatzzahlen an der Tagesordnung zu stehen, wobei sich das von Niedrigstlöhnen und toten Gewerkschaftsführern in Lateinamerika bis zu Kindersklaverei beim Kakaoanbau in Westafrika und wissentlich verursachten Wassernöten ganzer indischer Bevölkerungsgruppen zieht. Auf diese Unternehmen werde ich also in nächster Zeit verzichten. Wird schon nicht so schwer sein…

 

 An fast jedem Schokoriegel im Supermarkt klebt Blut

 

…oder? Kompliziert wird es schon, als ich meiner Liste die jeweiligen Unterfirmen und Produkte hinzufüge. Nie habe Ich mich vorher damit auseinandergesetzt, wie viele Marken wirklich zu Nestlé gehören – insgesamt etwa 6000 – und wie viele davon ich ganz unbewusst im alltäglichen Leben konsumiere. Wer hätte schon gewusst, dass der weltweit größte Lebensmittelkonzern durch eine L’Oréal-Beteiligung seine Finger auch bei unserer Schönheit im Spiel hat? Oder dass die gute alte ‚Salzburger Mozartkugel’ zum Mondelez-Imperium zählt?

Als ich all dieses neu erworbene Wissen zum ersten Mal in der Supermarkt-Praxis anwende, muss ich der Realität ins Auge sehen: Das mit den Süßigkeiten zwischendurch wird so schnell nichts mehr. An fast jedem Schokoriegel klebt Blut. Und auch die restlichen Regale zeigen frustrierende Ergebnisse: Nähme man all die Produkte derjenigen Firmen aus dem Sortiment, denen ich gerade noch so zuversichtlich abgeschworen hatte, würde man hier wohl durch leere Gänge schreiten und nur alle paar Meter mal beim Anblick etwas Essbaren einen Freudenschrei ausstoßen.

Übertrieben? Leider nicht. Ich fühle mich wirklich umgeben von einem Meer aus herumschwirrenden, leuchtenden Nestlé-Logos, zwischen denen nur hin und wieder der Ferrero-Schriftzug Raum findet oder ein einsames Unilever-U aufblinkt. Mein Ziel ist es, in dieser Masse die Außenseiter zu finden, die noch nicht von den Konzernriesen übernommen wurden. Mit angehaltenem Atem und zunehmend drängender knurrendem Bauch nehme ich also nacheinander verschiedene Produkte in die Hand und entspanne mich erst wieder, wenn nach wiederholtem Hin-und-Her-Drehen und Gegens-Licht-Halten immer noch kein verdächtig wirkendes Markenzeichen zu finden ist.

 

Das Stückchen Macht

 

Es ist anstrengend und sehr enttäuschend, aber aller Anfang ist ja bekanntlich schwer und beim fünften Mal Einkaufen steuere ich dann schon voller Zielstrebigkeit die einzelnen Abteilungen an, greife in dem Wissen zu, dass ich das gewünschte Produkt schon die ersten vier Male ob seiner Kaufbarkeit geprüft habe, und freunde mich langsam sogar mit dem unfreiwilligen Schokoriegelverzicht an.

Aber wie das aus der Norm fallende Verhaltensweisen so an sich haben, lassen kritische Kommentare von außerhalb nicht auf sich warten. Und wenn meine Erklärungsversuche und Auflistungen in Gesprächen mit anderen nicht gerade von einem so beherzten wie unreflektierten „Sowas Gutes wie Nutella kann doch gar nicht so böse sein“ beiseite geschoben werden, kommen doch zumindest oft Fragen auf wie: „Glaubst Du wirklich, Boykott bewirkt etwas?“ Fragen, die mich zugegebenermaßen oft selbst ins Zweifeln bringen. Ist das, was ich mache, wirklich besser für die Menschen? Führt nicht vielmehr mein Nicht-Konsum zu einem Abbau von Arbeitsplätzen?

Das soll natürlich nicht der Gedanke dahinter sein. Die Hoffnung dieses Boykotts besteht darin, Konzernen, die gegen meine Überzeugungen handeln, zum Umdenken und –lenken zu zwingen und im besten Falle den dagegen für mich moralisch und ökologisch unterstützbaren Unternehmen zu mehr Einfluss zu verhelfen. Sichtbare Wirkungen eines Boykotts treten meist erst auf, sobald sehr viele Menschen ihr Kaufverhalten umstellen, was allerdings in keinem Fall den so gern gesagten Satz „Du allein kannst doch eh nichts verändern“ rechtfertigt. Eine Menschenmasse setzt sich doch aus genau diesen anonymen und zunächst ‚allein’ scheinenden Personen zusammen und kann kollektiv einiges bewirken: Als Antwort auf eine Verbrauchergruppe, die Wert auf gesunde Ernährung und ökologische Verträglichkeit legt, und damit auf ihre einhergehenden sinkenden Einnahmen brachte Coca-Cola 2015 die grüne ‚Coca-Cola life’ auf den Markt. Aus ähnlichen Gründen starten Modemarken wie H&M-Recyclingkampagnen und setzen sich vermehrt für fairere Arbeitsbedingungen ein, um ihrem schlechten Image entgegenzuwirken. Es passiert nicht von heute auf morgen, aber mit Überzeugung und zäher Hartnäckigkeit können wir solche Konzerne in die Knie zwingen.

 

Jeder Kauf – oder Nicht-Kauf – beeinflusst den Erfolg eines Konzerns

 

Eine Kaufentscheidung ist also niemals nur eine individuelle, jeder Kauf oder Nicht-Kauf beeinflusst den Erfolg eines Konzerns und damit dessen Vorgehensweise. Ist es nicht eigentlich etwas Schönes, dass so jeder, wenn auch nur auf minimale Weise, Macht auf unsere Gesellschaft ausüben kann?

Doch allen edlen Beweggründen zum Trotz passiert es manchmal, dass ich ganz gedankenlos einfach auch in die herumgereichte Schokopackung greife und dann beim Reinbeißen von aufmerksamen Freunden gefragt werde: „Ach, machst du heute ’ne Ausnahme?“ Was? Äh, nein, eigentlich nicht. Verdammt. Nicht aufgepasst. Für den Einzelnen ist ein Boykott kräftezehrend – aber gerade deshalb sollten wir uns nicht davon abhalten lassen.

Denn wie wohl bei jedem neuen Vorsatz gerät von Zeit zu Zeit auch meine Selbstdisziplin ins Wanken. Ganz besonders riskant sind die berühmten Trostschokolade-Momente – „Ja, mir geht’s schlecht und nein, mir helfen jetzt keine super gesunden Fairtrade-Hafer-Kekse, Ich will das böse Nutellaglas. Das ganze.“ Um mich zu erinnern, wieso Ich trotzdem darauf verzichte, rufe ich mir Bilder von der Arbeit auf Kakaoplantagen der Elfenbeinküste ins Gedächtnis – und schäme mich der Inkonsequenz, die mich schon fast in ihren Fängen hatte. Des absurden Selbstmitleids, weil ich einen schlechten Tag hatte und meinte, nur schlecht gehandelte Haselnusscreme könnte mich trösten.

 

Auch der Verzicht kann Gewohnheit werden

 

Nach einigen Wochen des Selbstversuchs wird jedoch klar: Wie alles andere ist auch dieser Verzicht ‚nur’ Gewohnheitssache, er fällt immer leichter und leichter und dann, irgendwann, ist er mir in Fleisch und Blut übergegangen und geht fast ohne Nachdenken vor sich. Wenn ich jetzt aus Versehen oder höflichkeitsbedingt Ausnahmen mache, dann fühlt sich das danach nicht mehr gut an. Eher wie eine Allergie. Der Ausschlag bildet sich statt auf den Armen auf meinen Moralvorstellungen und nicht der Hals, sondern das Gewissen fängt an zu jucken. Diese Reaktion zeigt mir, dass all die Argumente, die ich auf rationaler Ebene schon längst verinnerlicht habe, inzwischen zur Herzenssache geworden sind. Und wie das mit echten Emotionen so ist, lassen sie sich nicht so leicht wieder abschütteln – Ich werde also auch weiterhin weinend faire Kekse essen und viele, viele Diskussionen führen.

„Mit deiner Logik müsstest Du ja auf alles verzichten!“  Natürlich, die hier genannten sind längst nicht die einzigen Übeltäter in der Lebensmittelindustrie und ähnliche Beispiele ließen sich mit Leichtigkeit auch in allen anderen Branchen finden. Durch einen Selbstversuch wie diesen kann aber zumindest eine neue Sensibilität für das Thema ethischer Konsum gewonnen werden, die sich in gesteigertem Interesse, bedachtem Einkaufen und öfterem Nein-Sagen zeigt.

Und vielleicht kauft man eines Tages dann wirklich nur noch regional, interessiert sich für das neue ‚Fairphone’ und macht einen Bogen um Primark und New Yorker. Aber selbst, wenn das dann doch zu viel wird, wenn Motivation oder Selbstdisziplin manchmal fehlen oder wenn man eben einfach nicht perfekt sein kann: Jeder Anfang ist besser als keiner. Und in Notfällen ist dann vielleicht auch ein Löffel Nutella erlaubt. Ein halber.

 

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Bildquelle: Jake Melara unter cc0 1.0