Bin ich alt genug, um aufs Land zu ziehen?

Da ist dieses große Haus mitten im Dorf. Dieser riesige Garten, diese riesige Scheune, diese riesige Stille. Und diese verschwindend kleinen Sorgen, diese nicht vorhandenen Stressfaktoren und diese minimalen Geräusche ganz weit weg. Hier ist das, was man Landidylle nennt. Hier fährt der Bus nur alle zwei Stunden, der Supermarkt ist erst im nächsten Ort, im einzigen Gasthaus sitzt freitags die ganze Dorfgemeinschaft und es riecht in jeder Gasse ein bisschen nach Kuhmist.

Aber die meisten von denen, die in so einem Dorf aufgewachsen sind, haben diesen Fluchtinstinkt, der sie spätestens nach dem Abi in die „große weite Welt“, sprich erst nach Neuseeland und dann Berlin, bringt. Sie möchten eine U-Bahn, die alle zwei Minuten fährt, einen Späti ums Eck, jede Menge Bars, Cafés und Clubs, und den Geruch von Freiheit. Sie wollen Möglichkeiten und Alternativen. Sie wollen raus aus der Engstirnigkeit und rein in den freien, offenen, toleranten Raum der Großstadt.

So auch ich. Ich war zwar nicht in Neuseeland, doch auch mich zog es schon immer in die Großstadt. Und auch jetzt, wo ich dort bin, finde ich es immer noch gut. Ich mag die Anonymität, mit der ich mich so frei durch die Straßen bewegen kann, ich mag die Möglichkeiten, die mir alles offen lassen, und ich mag die Menschen und ihren Lärm. Doch bei den letzten Heimatbesuchen, bei den Ausflügen ins nächste Weindorf und beim Wochenende auf dem Land sind in mir zum ersten Mal ganz unbekannte Gedanken aufgestiegen. Irgendwas dort hat mich in einen Bann gezogen. Und seitdem stelle ich mir die Frage: Ab wann kann man wieder aufs Land zurückkommen?

 

Das Land ist für Alte und Langweilige

 

Denn es ist doch so, dass wir mit dem Land- und Dorfleben hauptsächlich Eltern, Omas und Leute verbinden, die es nicht rausgeschafft haben oder nie raus wollten und damit irgendwie langweilig sind. Wenn man jung und cool ist, lebt man in der Stadt. Das haben wir so festgelegt. Wer auf dem Land lebt, hat keine Lust auf Abwechslung, die Welt und all die Chancen, die sie bereithält. Das heißt, wer da lebt, kann nur alt oder langweilig sein. Und deshalb haben wir das Gefühl, in unseren jungen Jahren, in denen wir Heißhunger auf genau diese Abwechslung und Chancen haben, können wir noch nicht aufs Land ziehen. Wir sind noch nicht „alt genug“.

Die Schlussfolgerung ist schon richtig: Wer genau diesen Heißhunger verspürt, ist in der Metropole auf jeden Fall besser aufgehoben als in der 200-Einwohner-Gemeinde. Aber ich glaube, wir tun dem Land unrecht. Verhalten wir, die ein paar Jährchen in der Stadt leben, uns nicht ziemlich hochnäsig und arrogant denen gegenüber, die den Heißhunger nicht verspüren und auf dem Land viel glücklicher sind?

Denn ich glaube, früher oder später überkommt jeden von uns die Frage, wie es wäre, auf dem Land zu wohnen. Ich kann nicht sagen, wann, aber umso länger wir in der Großstadt wohnen, desto wahrscheinlicher. Wenn wir irgendwann auf unseren ein paar Quadratmetern großen Großstadtbalkon sitzen und feststellen, dass der vermeintliche Raum in der Großstadt uns einengt und die vermeintliche Einengung auf dem Dorf der eigentliche Raum ist, sollten wir ganz schnell von unserem hohen Balkon heruntersteigen und unsere Arroganz ablegen. Irgendwann fällt uns die tägliche Masse an Entscheidungen, die mit der Masse an Alternativen entsteht, eher zur Last als dass sie uns Spaß bringt. Irgendwann macht uns der Lärm müde und lässt uns gleichzeitig nicht schlafen. 

Die Weite in der Großstadt besteht aus Straßen und Menschen, die Weite auf dem Dorf besteht aus Feldern und Himmel. Manchmal ist der Horizont auf dem Land weiter als in der Stadt. Manchmal bewegen wir uns in der Stadt in einer Blase, die auf dem Land gar nicht existiert. Und vielleicht ist die Freiheit in der Stadt irgendwann nicht mehr die Freiheit, die wir eigentlich suchen und brauchen, um glücklich zu sein.

 

Träumerei vs. Entscheidung

 

Der Morgen im stillen Grünen, am besten mit Blick auf einen See oder ein Feld, mit einem Kaffee in der Hand ist eine meiner Traumvorstellungen. Und dabei gar nicht mal so unrealistisch oder unerreichbar. Und auch die Vorstellung, dass der Bäcker ums Eck, der auch der einzige weit und breit ist, bereits eine Tüte mit Croissant und Körnerbrötchen zu füllen beginnt, wenn ich den Laden betrete, ist so schön und beruhigend. Genauso der Gedanke daran, dass ich, wenn ich die immer gleichen Menschen beim Bäcker treffe, in ein paar Minuten da bin, wo niemand mehr ist. 

Möglicherweise ist das alles ein bisschen verklärt, romantisiert und idealisiert. Genauso wie die Stadt hat auch das Land seine schattigen Seiten. In einer kleinen Gemeinde gehöre ich schneller dazu und kann mich dann schwerer allem entziehen. In einer kleinen Gemeinde gibt es auch nur diesen einen Bäcker, dessen Hörnchen mir vielleicht irgendwann zum Hals raushängen. Dabei ist eines sicher: Die Menschen, die im Dorf wohnen, haben sich bewusst für das Leben dort entschieden. Denn die „uncoole“ Variante wählt man immer bewusster als die „coole“. Wir wissen alle ganz genau, was für uns nach dem Abi eine Rolle gespielt hat. Und deshalb sollten wir keine Aussage pauschalisieren.

 

Den Zeitpunkt bestimmen wir

 

Es stellt sich also vielleicht gar nicht die Frage, wann ich alt genug bin. Ich kann umziehen, wenn ich nach einem Wochenende auf dem Land gar nicht mehr zurück in die stickige, laute Stadt will. Ich können mir den Kaffee im Grünen gönnen, wenn er mir wichtiger ist als die Kneipentour am Abend. Wenn wir uns alle frei davon machen, zu urteilen, was cool und was langweilig ist, und uns nach den Urteilen anderer zu richten, können wir selbst entscheiden, ob und wann wir eine andere Umgebung brauchen. Und entscheiden uns dann ganz bewusst.

Aber für mich ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Und so bleibt es vermutlich erst einmal bei den regelmäßigen Ausflügen aufs Land und mein Alltag findet weiterhin in der Großstadt statt. Ich habe noch nicht genug von ihr, genieße ihre Vorzüge immer noch sehr. Doch irgendwann wird es mich rausziehen. Und das ist auch okay. So muss jeder für sich nachfühlen und den richtigen Zeitpunkt finden. Vielleicht kommt er mit 20, vielleicht mit 40, vielleicht auch nie.

 

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz