Coming Out.

Coming Out: Wie ich lernte mit meiner Depression zu leben

8 Uhr. Aufstehen. Ich kann nicht aufstehen. Etwas zwingt mich an die Matratze. Alles fühlt sich so schwer an. Minuten vergehen im Stundentakt. Es ist 10:21 Uhr. Endlich habe ich es aus dem Bett geschafft. Wie, das weiß ich nicht mehr. Taumelnd bewege ich mich in Richtung Küche, um mir etwas zu essen zu machen. Nicht weil ich Hunger habe, sondern weil ich weiß, dass ich essen muss. Doch was? Es fällt mir schwer. Die einfachsten Dinge fallen mir so schwer. Irgendwann schaffe ich es dann doch, mir etwas anzuziehen, mir ein Müsli herunter zu würgen und zu duschen. Ich habe die Zeit nicht im Blick, komme verschwitzt und verwirrt in die Vorlesung, suche mir einen Platz in der letzten Reihe, alleine. Was der Professor vorne referiert, geht einfach an mir vorbei. Ich versuche mitzuschreiben, doch bin viel zu langsam. Ich versuche mich zu konzentrieren, doch mein Gehirn sagt nein. Es ist zu einer trägen Masse geworden. Meine Blicke schweifen umher, ich verfolge fassungslos, wie meine Kommilitonen mit interessiertem Blick dem Vortrag lauschen.

Depressionen: Von falschen Wahrheiten und Mauern im Kopf

Essen wurde zu einer Qual für mich

Irgendwann ist die Stunde endlich vorbei und es geht in die Mensa. Es gibt Gnocchi. Ich versuche eine Gnocchi nach der anderen runterzuschlucken, es fällt mir schwer. Mein Mund ist trocken, zu trocken – wann wurde das Essen für mich zu solch einer Qual? Alle sind längst fertig, doch mein Teller ist noch mehr als randvoll. Ich habe das Gefühl, sie starren mich an und fragen sich, was mit mir los ist. Ist sie magersüchtig, hat sie keinen Hunger? Warum isst sie nichts? Endlich ist auch das vorbei und ich kann nach Hause gehen. Nach Hause, wo ich mich zurückziehen kann. Dort, wo ich einfach nur ins Bett gehen und die Augen vor der Welt verschließen, verdrängen kann. Ich liege da, den Blick auf die weiße Wand gerichtet. In mir Leere. Stunden um Stunden vergehen und nichts regt, nichts verändert sich. Ab und zu weine ich, doch meistens fühle ich nichts. Anna, meine Mitbewohnerin, kommt in mein Zimmer, fragt besorgt, wie es mir gehe und ob sie mir helfen könne, doch ich weiß nicht, wie sie mir helfen kann. Ich weiß nicht, wie ich mir helfen kann. Oder ob das Ganze überhaupt noch einen Sinn hat.

Marco, 21, spricht offen über seine Depression und Essstörung

Vom extremen Hoch ins Tief

Doch stopp. Wie konnte es eigentlich soweit kommen? Was ist mit mir passiert? Angefangen hatte alles im Sommer. Ich hatte Deutschland für eine längere Zeit den Rücken gekehrt und gemeinsam mit meinem Freund viele Länder bereist. Da ich noch nicht genug vom Reisen hatte, fuhr ich mit einer Freundin drei Wochen mit dem Zug durch Europa. Doch nicht nur das. Nach der Reise nahm ich einen Vollzeit-Ferienjob am Flughafen München an. Zehn Tage Schichtarbeit ohne Pause – ich gab mir die volle Dröhnung und war dabei, das letzte Quäntchen Energie in meinem Körper aufzubrauchen, ohne es zu merken. Und ich veränderte mich. Ich war aufgedreht, voller Energie. Wollte am liebsten alles gleichzeitig machen. Mein Partner, meine Freunde, meine Familie – alle waren genervt von meiner anstrengenden, impulsiven Art. Von alldem bekam ich wenig mit, ich hatte so viel Energie, gefühlt hätte ich Berge versetzen können.

Depression ist keine Modeerscheinung

Kein Schlaf, keine Freude – Plötzlich ging nichts mehr

Dann der Einbruch. Ich stehe an der Kasse im Kiosk und bekomme Herzrasen. Mir wird schwindelig. Schweißausbrüche. Meine Gedanken reißen ab. Ich bekomme Panik. So etwas kenne ich nicht von mir. Ich rufe meine Mutter an, arbeite weiter, zwölf Stunden an diesem Tag. Verschwitzt und völlig erschöpft komme ich nach Hause, will einfach nur ins Bett. Doch ich kann nicht schlafen, die ganze Nacht kann ich nicht schlafen. Auch die nächste und die darauf Folgende nicht. Mein Herz rast, meine Gedanken rasen schneller. Ich mache mir Sorgen. Nie hatte ich Probleme mit dem Schlaf. Tagsüber spüre ich, dass mich meine Energie verlässt. Ich schob die Schuld auf den Job und kündigte, in der Hoffnung, es würde dann besser. Doch es wurde schlimmer.

Ich wünschte, ich könnte über meine Depression reden wie über eine Grippe