Egoismus: Eigentlich lieben wir nur uns selbst

Eine junge Frau steht nackt im Badezimmer und haucht die Scheibe an – die atmet beschlagen zurück. Sie verzieht ihr Gesicht zu einer grotesken Fratze, das Gesicht gegenüber bleckt die Zähne. Langsam hebt sie die Hand, spürt das schwache Fleisch über ihrem Ellenbogen herunterfallen. Dann verschwindet die Visage unter einem fremden Körper. Oder Fremdkörper?

Zwei starke Arme schlingen sich von hinten um sie und plötzlich ist da ein zweites Gesicht im Spiegel. Aber ihr Blick verändert sich nicht. Ich sehe die Welt nur durch meine Augen, erkennt sie plötzlich. Alles was ich bin, bin ich nur für mich.

Ein Manifest des Egoismus

Es gibt keine selbstlose Tat. Uneigennützigkeit ist ein romantisches Konzept, aber auch ein nicht existentes. Aber nein, schreien da schon die ersten Altruisten und recken ihre Urkunden der freiwilligen Irgendwas in die Höhe, die Hände noch warm vom Nachbarschaftskuchenbacken, was ist mit uns? Geben und Nehmen, vor allem Geben, ach, was macht das glücklich!

Doch genau da tappen sie in die Falle. Seht ihr, triumphieren die Darwinisten mit einem subtil-süffisanten Schmunzeln um den Mund, Geben macht glücklich! Auch euch. Aller Altruismus rekurriert früher oder später auf den Erhalt von Vorteilen – auf die Vergrößerung des eigenen Genpools, die Erwartung von späteren Gegenleistungen oder eben dieses wohlig-weiche Gefühl in der mittleren Bauchgegend, das sich ein bisschen anfühlt wie Quiche frisch aus dem Ofen. Am Ende regiert der Egoismus. Jeder unserer Schritte dient einzig und allein dazu, uns selbst am Leben zu erhalten. Bittet mich ein Freund am Esstisch beispielsweise nach Ketchup, reiche ich ihm die Flasche – auch wenn ich davon zunächst keinen eindeutigen Vor- und sogar den marginalen Nachteil habe, meinen pommesmüden Arm heben zu müssen. Doch ich tue es trotzdem, weil der gesellschaftliche Kodex das Darbieten von Soßen und Frittierten einschließt. Und ich möchte Teil dieser Gesellschaft sein.

Die Ich-Dramaturgie der Liebe

Es geht also immer um mich, mich, mich. Und vielleicht ist die Liebe die vollkommenste Befriedigung unserer ichsüchtigen Wunschvorstellungen. Man mag sich ja vorstellen, dass in der Liebe der Egoismus endlich aufgebrochen würde, Zweisamkeit statt Eigenliebe, aber tatsächlich ist sie vielmehr eine Dopplung des eigenen Ich. Ein Spiegel. Sich selbst in den Augen des Anderen zu sehen, reflektiert von dessen Liebe zu einem selbst – das ist doch die Projektion par excellence.

Das Konzept sinnlich-symbiotischer Bande zwischen zwei Menschen ist „nur scheinbar eine Überwindung der eigenen Grenzen“, heißt es in einem Artikel der FAZ, in der die Liebe einer Art postmodernen Ersatzreligion gleichgesetzt wird: „In Wahrheit handelt es sich um eine Fortsetzung der Ich-Bezogenheit mit anderen Mitteln, denn die Triebkraft, die wirkt, ist ja, wenn man ehrlich ist, gar nicht der Wunsch zu lieben, sondern der, geliebt zu werden.“ Natürlich kratzen jetzt schon die ersten Verliebten an die Redaktionsscheiben und werfen mit Liebesschlössern nach uns. Wir sind doch total selbstlos, kreischen sie und küssen sich verzweifelt, wir tun alles füreinander! Es geht hier aber nicht um episodische Akte der Nächstenliebe oder Momente der Aufopferung, sondern um das Prinzip, das all dem zugrunde liegt. „Selbstlose Liebe ist Unsinn“, sagt auch der Pop-Philosoph Richard David Precht: „Wir lieben unseres eigenen Seelenheils willen“. Kratzt euch das in eure Liebesschlösser: Gefühle sind purer Narzissmus! Die Liebe ist verstecktes Ich im Wir, Egoismus im Bademantel.

Geliebt, gelobt, verselbstwirklicht

In einer Inszenierung von Jean-Paul Sartres „Das Spiel ist aus“ am Frankfurter Schauspiel, die gekonnt nicht nur mit Teilen seines entsprechenden Drehbuchs arbeitet, sondern auch Fetzen aus anderen existentialistischen Werken des Philosophen in den Ring wirft, sprechen die Protagonisten Pierre und Ève über die Wechselwirkung ihrer Liebe. Im Kapitel über die Beziehungen zum Anderen formulierte Sartre in „Das Sein und das Nichts“ nämlich den Gedanken, dass man Liebe vor allem braucht, um aus der Distanz des Anderen sich selbst zu erkennen – weil man sich sonst zu nahe ist. „Jetzt sehe ich, was ich wirklich sein kann. Ich sehe mich durch dich“, hechelt Pierre paraphrasierend in der Frankfurter Inszenierung. Und Ève? Ist natürlich mehr erschrocken denn geschmeichelt – „Ja, Moment (…) Du siehst aber auch mich, oder?“

Was Sartre predigt, ist immer noch aktuell: Lieben heißt doch in erster Linie zu wollen, dass der Andere von einem geliebt werden will. Und der einem dann aufzeigt, wer man eigentlich ist, indem er mal heftig zurückliebt. Man will sich selbst als liebendes und geliebtes, und das heißt in jeder Zeit und Gesellschaft überhaupt erst als lebenswürdiges Subjekt erfahren. Ist die Liebe also vielmehr ein Gegenüber als ein Nebeneinander, ein Spiegelkabinett der Endorphine? Nur ohne diese Vervollkommnung, die einen wieder auf einen selbst zurückwirft, kann man den Anderen wirklich sehen. Und vielleicht ist deshalb die einzig denkbare Form von bedingungsloser Liebe die unerwiderte. Diese nackte Verzweiflung, in die man nur hineinsteckt, im besten Fall viel zu viele Gedanken und Geld für Alkohol und neue Röcke, im schlimmsten betrunkene SMS, und nie was zurückbekommt – wahrscheinlich ist sie die nächste Annäherung an den Limes der Selbstlosigkeit.

Im Grunde unseres Herzens sind wir also alle Egoisten. Nur was verdammt nochmal machen wir jetzt damit? Sollen wir uns von allen anderen Menschen verabschieden, lieber gar keine Liebe als eine Beziehung mit mir selbst, in den Wald ziehen und giftige Beeren essen? Sollen wir in einer Art Protest alle Brücken dieser Welt mit dämlichen Liebesschlössern vollhängen, um es den gemeinen Pessimisten zu zeigen – in your face, Darwin? Nee Moment, das haben wir ja schon gemacht.

Die nicht mehr nackte Frau hat sich inzwischen einen Kimono übergeworfen, studiert sich aber immer noch im Spiegel. Das passende Gesicht zu den Armen über ihrer Brust tut das Gleiche und sieht jemand anderen. Immerhin – so wie ich ihn gebrauche, um mein bestes Selbst zu sein, werde ich von ihm genauso ausgenutzt. Der Gedanke tröstet sie. Vielleicht uns alle.

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Bildnachweis: Joe St. Pierre: Instagram, Facebook, Flickr.