Schlafzimmer

Erinnerung an meine Kindheit: „Pst, Papa schläft!“

Irgendwo in der Vorstadt, irgendwann nach 13.00 Uhr. Meine Schwester und ich kommen von der Schule nach Hause. Mittagessen. Wir sitzen am Tisch, schlürfen, lachen, machen Quatsch. Keine fünf Minuten wird es dauern, bis meine Mutter dazu gezwungen ist, diesen einen Satz auszusprechen: „Pst, Papa schläft“. Es ist bloß ein einfacher Satz. Aber er ist so sehr mit meiner Kindheit verbunden, wie kein anderer.

 

Nachtschicht-Kinder

 

Mein Vater arbeitete knapp 30 Jahre „unter Tage“ im Steinkohle-Bergwerk. Er ging „malochen auf’n Pütt“. So nennt man es zumindest dort, wo ich herkomme. Drei Jahrzehnte lang sorgte er dafür, dass mehrere hundert Meter unter der Erde Förderbänder und Maschinen einwandfrei das schwarze Gold abbauen konnten. Wenn es da unten schon dunkel, gefährlich und ohrenbetäubend laut ist, dann sollte man sich nicht nur auf seinen „Kumpel“ verlassen können, sondern auch auf die Technik.

Wenn mein Vater von seiner Arbeit nach Hause kam, wollte er nur eines: seinen geschundenen Körper erholen. Ausgelaugt vom Knochenjob zwischen Kohlestaub und Arbeiterschweiß stand er da, im Türrahmen. Pfiff sich dann vielleicht noch ein Rührei oder eine „Knifte“, die meine Mutter für ihn schmierte, rein, und war anschließend…weg. Genau das machte meinen Vater für mich, und für viele andere „Nachtschicht-Kinder“ sicher auch, zu einem irgendwie mystischen Wesen.

 

Immer müde, immer erschöpft

 

Denn irgendwie war er ja da, aber eben nicht für uns, für mich und meine Schwester. Und wenn er dann aufwachte, war er zwar da, aber immer müde und erschöpft. Im Grunde schon im Standby-Modus für die nächste Schicht. Noch ein paar Krimis oder Comedy-Shows schauen, noch eine Buttermilch trinken und einen Matjes essen, dann geht’s weiter.

Diese Ruhe, diese tägliche Portion Auszeit, hatte er sich ja auch redlich verdient. Mein Vater nahm jede Sonderschicht mit, die er kriegen konnte. Größten Respekt hat er dafür verdient, dass er jahrelang die Knochen hinhielt, um uns, seine Familie, zu ernähren. Aber erklär‘ das mal einem Sechsjährigen, der mit Papa Fußball im Garten spielen möchte. Einem Siebenjährigen, der endlich die Riesenschildkröten im Wuppertaler Zoo sehen will…keine Chance. Frei nach Rolf Zuckowski: „Papa, bist du müde? Papa, was ist los mit dir?“

 

„Ich bin froh, dass ich lebe“

 

Seine Reaktion, wenn ich ihn fragte, ob er etwas mit mir spielen wolle, und das werde ich nie vergessen, war meist die folgende: Für Sekundenbruchteile schloss er die Augen und sein Gesicht erhielt einen ebenso gequälten wie behaglichen Gesichtsausdruck. Dann ein kurzer Seufzer, dann gab er mit belegter Stimme ein kurzes „Ich bin froh, dass ich lebe“ von sich. Nicht im Sinne von „Ich könnte Bäume ausreißen“. Sondern mehr im Sinne von „Atmen klappt gerade noch so“.

Ich denke, je ferner ihrer Vorstellung der Beruf des Vaters liegt, desto mystischer ist er für Kinder. Kinder von Bäckern können mit ihrem Vater in der Küche Brot backen. Kinder von Immobilienmaklern spielen mit ihrem Vater Monopoly. Aber Kinder von Bergmännern? Wir konnten ihn ja nicht mal eben von der Arbeit abholen, um „zu gucken, was Papa da unten so macht“. Wir wussten nur: Er fährt spät abends mit unserem Auto aus der Einfahrt und kommt morgens wieder. So lange winken, bis man den Wagen hinter der Hecke vom Nachbarn nicht mehr sieht und noch ein „Gute Schi-hicht“ hinterherrufen. Da durfte man dann einmal so richtig laut sein.

 

Auf Knopfdruck still, auf Knopfdruck laut

 

Überhaupt, laut sein. Ich bin davon überzeugt, dass Nachtschicht-Kinder durch ihre Situation eine ebenso merkwürdige wie geniale Beziehung zu dem Gegensatz „laut und leise“ aufbauen. Einerseits waren wir den Großteil des Tages dazu gezwungen, leise zu sein. Auch, wenn immer wieder das erinnernde „Pst, Papa schläft“ aus dem Munde der Mutter kam – irgendwann hatten wir es dann kapiert. Und waren oft fasziniert davon, wie laut andere Kinder zu Hause sein durften.

Andererseits, das führt mich zum Faktor „laut“, suchten wir uns einen Ausgleich – irgendwo mussten wir uns ja ausleben. Vielleicht auf dem Fußballplatz, vielleicht beim Singen, vielleicht beim Kindertheater. Nachtschicht-Kinder sind ebenso einsiedlerisch wie explosiv. Wenn unsere Mutter mehrmals die mahnenden Worte sprach, waren wir mucksmäuschenstill. Wenn wir wussten, dass da im Schlafzimmer gerade niemand liegt, oder wenn wir woanders beim Spielen waren, ließen wir die Dezibel nur so aus uns heraussprudeln. Wie eine Flasche Wasser, die sich auf Knopfdruck von „still“ auf „mit viel Kohlensäure“ stellen lässt.

 

Das blaue Puma-Shirt: Für einen Moment so groß wie Papa

 

Das Paradoxe ist: Auch, wenn ich nicht genau wusste, was mein Vater da macht, wollte ich so sein, wie er. Ich habe es geliebt, bestimmte Dinge zu benutzen, ja regelrecht zu vergöttern, die meinem Vater gehörten. Dafür gab es nicht viele Gelegenheiten. Aber die, die es gab, nutzte ich. Waren wir im Urlaub, hatte mein Vater erstens mehr Zeit für mich. Und zweitens hatte er seine T-Shirts mit dabei. Natürlich, sie waren mir viel zu groß. Aber genau das war ja das Tolle: Mit Papas blauem Puma-T-Shirt über die Wiese laufen und sich für einen Moment genauso groß, genauso stark zu fühlen, wie er.