lesen ist der shit

Lesen ist der Shit! Warum ein Buch großartiger als Netflix ist

Von Sven Weber

„Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben.“ Charlie Chaplins Worte sind 80 Jahre nach seiner flammenden Rede als „Der Große Diktator“ so relevant wie nie zuvor. Wer in der Hektik der heutigen Zeit (über)leben will, erledigt besser möglichst viel und das möglichst gleichzeitig. Die wichtigsten Neuigkeiten auf Facebook dürfen genauso wenig fehlen wie der morgendliche E-Mail Check. Wir klicken uns hektisch von einer Headline zur nächsten, schauen nochmal schnell nach dem Wetter und stolpern nebenbei über die neuesten Katastrophenbilder aus den Nachrichten. Zu guter Letzt wird noch das neue Album auf Spotify probegehört und beim Verlassen der Wohnung vergisst man prompt die Hausschlüssel, weil man auf WhatsApp schon die nächste Party plant. Diese Dauerüberflutung von Reizen lässt kaum Zeit zum Verschnaufen.

 

Entschleunigung ist das Zauberwort

 

Im Vergleich zum Stress des Alltags hat ein Buch eine wundervoll entschleunigende Wirkung. Man entspannt sich und konzentriert sich eine ganze Weile nur auf ein und dieselbe Sache. „Das tut Netflix aber auch!“ ruft jetzt eure innere Stimme? „Verfilmungen von Büchern sind auch nice und entspannen!“ brüllt eure Faulheit hinterher? Dann lasst euch mal anhand von unserem Liebling Harry Potter erklären, was der Unterschied ist:

Wer sowohl das Buch als auch den Film kennt, weiß, dass es hier ganz starke inhaltliche Abwandlungen gab. Dabei wird wunderbar klar, was die Medien Buch und Film unterscheidet: Schauspieler müssen gecastet, Kulissen gebaut und manche Szenen nun mal weggelassen werden. Nimmt man alle Harry Potter-Bänder zusammen, kommt man auf sage und schreibe 4346 Seiten. Wäre dabei nicht gekürzt worden, säßen wir wahrscheinlich heute immer noch alle im Kino, nur dass das Popcorn schon lange alle wäre. Jeder hat zwar seine einzigartige Version von Hogwarts im Kopf, letzten Endes ist es aber nur die Version einer kleinen Gruppe, die es dann auf die Leinwand schafft: Die der Filmcrew.

 

Hermine ist schwarz und alle rasten aus

 

Perfekt wurde diese Problematik bei dem neuen Theaterstück von J.K. Rowling gezeigt: Hermine Granger wird in „Harry Potter and the cursed child“ von einer dunkelhäutigen Schauspielerin gespielt. Die Besetzung der schwarzen Hermine löste eine regelrechte Schockwelle auf Twitter aus. Die Rolle der talentierten Hexe ging an die aus Südafrika stammende Schauspielerin Noma Dunezweni und mit dieser Entscheidung brach für viele Fans offensichtlich eine komplette, magische Welt zusammen. Schließlich hatten sie die Zauberschülerin Hermine jahrelang weiß gesehen – und nun sollte sie plötzlich schwarz sein? Die Filmwelt hatte sie von Beginn an als weiße Frau gezeigt – dabei war von ihrer Hautfarbe im Buch nie die Rede. Was das zeigt? Es beweist, dass der Zuschauer ein passiver Konsument ohne Einfluss auf das ist, was er sieht. In solchen Momenten prallen unsere Vorstellungen mit denen des Regisseurs aufeinander. Bei Überschneidungen wird gejubelt, bei Abweichungen wird gebuht.

Mit einem Buch in der Hand ist jeder von uns ein kleiner Regisseur. Budget, Technik und Zeitdruck sind alles Grenzen, die Hollywood einschränken. Im Gegensatz dazu, ist die Fantasie grenzenlos und stellt jeden CGI-Effekt weit in den Schatten. Es sollte jeder für sich selbst entscheiden, woran er mehr Freude hat: An der eigenen Vorstellungskraft oder an der von Hollywoods Filmemachern.

 

Mit dem Buch in der Hand, hält man Alzheimer stand

 

Gegen körperlichen Verfall tun wir so viel: Wir treiben Sport, mischen Chia-Samen in jede Mahlzeit und testen eine absurde Diät nach der anderen. Unsere geistige Gesundheit vernachlässigen wir hingegen sträflich: Wir vergessen, dass unser Gehirn genauso ein Muskel ist wie unser Herz. Wird er nicht beansprucht, verkümmert er und ist anfälliger für Erkrankungen wie Alzheimer und Demenz. Wer jetzt hofft, ein paar Stunden Netflix wären als Gehirnjogging ausreichend, ist auf dem Holzweg.

Netflixen eignet sich so gut wie gar nicht zur Alzheimer-Prophylaxe. Unser Denkapparat ist vor der Mattscheibe – glaubt es oder nicht – ziemlich inaktiv, weil er nun mal keine eigene Leistung vollbringt. Lesen hingegen kann vor allem in jungen Jahren vorbeugend gegen geistigen Verfall wirken. Man verlangt von uns nichts unmögliches, nur dass wir unsere Nase hin und wieder in ein Buch stecken. Wer sich mit dem Lesen partout nicht anfreunden kann, der findet vielleicht im Tanzen oder Malen einen Ausgleich. Beide sind ähnlich kreative Prozesse und wirken wie ein Rostschutz fürs Oberstübchen. Wenn der Waschbrettbauch literweise Schweiß und Tränen wert ist, dann verdient auch der Kopf sein regelmäßiges Workout. Was ist euch wichtiger, wenn Ihr irgendwann alt seid? Ein dicker Bizeps oder dass Ihr geistig noch im Stande seid, eure Familie zu erkennen?

Die Frage ist: Sieht das Buch in den nächsten Jahren seinem Untergang entgegen? Nicht gerade wahrscheinlich. Besonders heute ist es wichtiger denn je: Um nach einem stressigen Tag zu entspannen, sich geistig fit zu halten und um den kleinen Regisseur zum Spielen raus zu lassen.

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