Liebeserklärung an: das Hochstapeln, das uns verdient weiter bringt

Es sind die kleinen Dinge, die uns unseren tristen Alltag versüßen und das Leben ein bisschen besser machen. Ob es hübsche Gänseblümchen sind, die am Straßenrand wachsen oder eine Kugel deiner liebsten Eissorte – wir alle haben kleine Muntermacher in unserem Alltag, über die wir nur selten ein Wort verlieren. Das soll sich jetzt ändern! Wir bieten euch eine Liebeserklärung an die kleinen Dinge, die uns in stressigen Situationen retten, an schleppenden Tagen motivieren oder uns die guten Tage versüßen!

Liebes Hochstapeln,

wir kennen uns schon ziemlich lange. Ich sage nur: Deutschunterricht am Gymnasium vor ca. 6 Jahren. Die hellsten Köpfe meiner Klasse diskutieren hitzig über Fontanes „Effi Briest“ (okay, so hitzig war das wohl nicht) und belegen ihre Argumente auf Wunsch der Lehrerin sogar mit direkten Zitaten aus dem hässlichen, gelben Reclam. Munter mische ich mit, achte ganz genau darauf, bei welchen Aspekten, die die anderen nennen, ich ansetzen kann, um meine vermeintliche Street Smart – Expertise dazu abzugeben. Was keiner weiß: Ich habe das Buch nicht mal im Ansatz gelesen. Aber sobald sich die Diskussion ein wenig vom direkten Textbezug entfernt und Richtung Meta-Ebene davongeistert, kann ich so beiläufig mitreden, dass das niemandem auffällt. Die Lehrerin ist begeistert.

Dass mir aber dann wichtiges Wissen fehlen würde, könnte man mir vorwerfen, wenn ich Effi Briest nicht gelesen habe und trotzdem eine gute Note kassiere. Dass ich doch eigentlich intrinsisch ambitioniert sein sollte, etwas über Effi Briest zu lernen – und nicht nur mit hochgestapeltem Gerede die Lehrerin beeindrucken sollte. Dass ich so nicht durchs Leben komme, mit ungelesenen Büchern, gut gepokertem Halbwissen und Selbstüberzeugung. „Mimimi, du lernst für dich selber, nicht für die Noten“, wird mir dann gesagt. Und ich lerne ja auch für mich selber: Nichts über Effi, das gebe ich zu, aber über mich und mein Auftreten.

Fake it till you make it

Und ich bin fest davon überzeugt, dass mir das im alltäglichen Leben tatsächlich mehr bringt, als analysieren zu können, warum Effi dies oder das macht (ihr seht, ich weiß bis heute nicht genau was da abging). Denn ich habe das Hochstapeln gelernt. Ich habe gelernt, sicher aufzutreten, auch wenn man eigentlich vorerst keinen Plan hat, was man tut. Zu improvisieren. Enorm schnell kleine Details und Aussagen von anderen aufzunehmen, in meinem Kopf anzupassen und dann meinen Senf in gewichtiger Form und mit dem mir schon zur Verfügung stehenden Wissen – bin ja nicht auf den Kopf gefallen – zu ergänzen und wiederzugeben. Das hat bis jetzt immer einwandfrei geklappt.

Ich finde, wir sollten alle mehr hochstapeln. Ich finde, wir dürfen ruhig überzeugter von uns und unseren Fähigkeiten sein. Und wir dürfen uns ruhig ein bisschen mehr zutrauen, als wir vielleicht können. Weil ‚learning by doing’ is a thing! Und wahrscheinlich eine der effektivsten Lernmethoden. Wir sollten uns weniger fürchten vor dem Sprung ins kalte Wasser. Weil meistens checken wir, dass wir auch in kaltem Wasser schwimmen können und unser Herz doch nicht stehen bleibt. Wobei hochstapeln natürlich nicht gleich lügen oder angeben ist. Es ist vielleicht eher die Wahrheit überspielen und darauf pokern, dass wir noch nachliefern. ‚Fake it till you make it’. Das ist doch auch eine Herausforderung an uns, dem hochgestapelten Selbst näher zu kommen. Das, was wir heute hochstapeln, können wir vielleicht morgen tatsächlich schon. Es ist eine Herausforderung, aber es ist auch Vertrauen in sich selbst. Dass man es, wenn’s darauf ankommt, schon irgendwie kann. Ein Glaube an sich selbst. Und das tut gut.

Okay, Chirurgen sollten vielleicht nicht hochstapeln

Und natürlich gibt es Situationen, in denen man nicht hochstapeln sollte. Ich hoffe doch sehr, dass unsere Chirurgen zum Beispiel keine Hochstapler sind. Oder wenn sie’s früher mal waren, dass sie mittlerweile alles by doing gelernt haben und dass ich während diesem „doing“ nicht auf dem OP-Tisch lag. Aber in anderen Bereichen, in denen vielleicht nicht die Gesundheit anderer davon abhängt, sollten wir uns vieles einfacher machen und dabei an uns glauben. Gerade im Beruf und bei Bewerbungen hört man leider immer wieder, wie oft sich vor allem Frauen eben nicht auf Stellen bewerben, weil sie den Kriterien nicht zu 100% entsprechen. Und so gehen uns vielleicht mega coole Jobs durch die Lappen! Machen wir doch aus den ‚guten’ Französischkenntnissen ‚sehr gute’. Wenn wir’s dann echt brauchen wird’s schon irgendwie gehen. Nehmen wir uns selber wieder wichtiger und machen eine noch wichtigere Miene dazu.

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz