8 Fragen, 8 Antworten: Sind Märchen wirklich sexistisch?

Keira Knightley verbietet ihrer Tochter Disney-Klassiker wie ‚Ariel die kleine Meerjungfrau’ oder ‚Cinderella’ zu schauen. Das erzählte sie vor einiger Zeit der Talkshowikone Ellen DeGeneres – und wird seither für ihre feministische Erziehung gefeiert. Eine Schule in Spanien verbannte die weltweit bekannten Märchen ebenfalls aus dem Bücherregal, um ihre Schüler vor sexistischen Denkmustern zu bewahren. Die Zeit der Meerjungfrau, die ihre Stimme für einen Prinzen aufgibt und der unglücklichen, misshandelten Prinzessin, die nur darauf wartet, vom Prinzen gerettet zu werden, ist vorbei.

Denn Cinderella, Schneewittchen und Co. verkörpern in der Darstellung des Produktions-Riesen Disney tatsächlich sexistische Stereotypen. Ein Blick auf die Jahrtausend alte Entstehungsgeschichte der Märchen, die bis in die matriarchale Prähistorie reicht, zeigt allerdings, dass den Märchen keineswegs sexistische Geschlechterrollen innewohnen – und dass in unserer Gesellschaftsgeschichte unlängst etwas mächtig schief gelaufen ist. Was genau, erklärt uns die Märchen-Forscherin, Astrologin und Autorin Andrea Hofman im Interview mit ZEITjUNG, und was wir eigentlich alles von den vermeintlichen Kindergeschichten lernen können, verrät sie in Ihrem Buch „The True Hero’s Journey in Fairy Tales and Stone Circles“.

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Wo liegt der Ursprung der Märchen?

Im Laufe der Zeit gab es verschiedene Ansätze. Wilhelm Grimm zum Beispiel hielt die Märchen für Überreste eines Mythos aus vorvergangener Zeit, andere versuchten sie mit einer kulturellen Wanderung von Indien her zu erklären und wieder andere sahen in ihnen eine Erklärung des Sonne- und Mondzyklus, verpackt in leicht verständliche Geschichten. Als Astrologin habe ich, nach jahrelanger Forschung, Bestätigung für letztere Theorie gefunden und den Ursprung der Märchen in die vorgeschichtliche Zeit datieren können. Eine neue Forschung aus der Ecke der Linguisten kommt zum gleichen Schluss, nämlich, dass die ältesten europäischen Märchen 6‘000 Jahre alt sind. Damit hätte dann Wilhelm Grimm Recht gehabt, die Märchen sind tatsächlich aus vorvergangener Zeit, nur nicht etwa die Überreste eines Mythos, sondern ein eigenständiger Mythos, der eine vollständige Heldenreise abbildet.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Was ist eine Heldenreise?

Eine Heldenreise ist der rote Faden einer mythologischen Geschichte. Eine Heldin oder ein Held bricht auf, um ein Abenteuer zu erleben oder ein Problem zu lösen. Was die Protagonisten unterwegs erfahren, steht beispielsweise aus astrologischer Sicht sinnbildlich für die Erfahrungen von uns Menschen auf der Erde unter dem Einfluss der sich ständig wandelnden Sonne- und Mondzyklen. Das geht auf das Denken eben dieser vorgeschichtlichen Zeit zurück, ist aber heute noch genauso aktuell und anwendbar.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Wie wurden damals Märchen erzählt?

Märchen stammen wie bereits erläutert aus einer Zeit, in der Wissen und Weisheit nicht aufgeschrieben, sondern nur mündlich weitergegeben wurden. Es ist gut möglich, dass sich unsere prähistorischen Vorfahren die Märchen als Weisheitsunterricht erzählten. Über die Jahrtausende trat dann dieses Wissen über den Sonne- und Mondzyklus, das in den Märchen enthalten ist, in den Hintergrund, weil sich die Geschichten mit der Gesellschaft wandelten. Sie wurden dann in den guten Stuben erzählt und passten sich dem jeweiligen Zeitgeist an. In ihrem ursprünglichen Aufbau blieben die Märchen aber der Heldenreise treu.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Die Märchen beinhalten also altes Wissen. Was wollte mit dem Wissen in den Märchen bezweckt werden?

Der ursprüngliche Sinn der Märchen war das Weitergeben einer „Mär“, also einer Botschaft. Ziel war, die Menschen daran zu erinnern, dass sie selber Heldinnen und Helden in ihrem eigenen Leben sind. Die Märchen sind folglich eine Anleitung für uns Menschen, wie wir die Abenteuer und Herausforderungen des Lebens am besten meistern. Sie geben uns Tipps fürs Zusammenleben unter uns Menschen, aber auch für die Beziehung zwischen Mensch und Natur, daher kommt auch das verlässliche Happy End am Schluss. Und spannend dabei ist, dass das Geschlecht der Heldin oder des Helden überhaupt keine Rolle spielte. Denn Märchen sind alles andere als sexistisch. Es ging nur um den Mensch und seine Geschichte. Heute sind es ja leider fast nur noch männliche Helden.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Warum ist dieser ursprüngliche Sinn verloren gegangen?

Als sich die Gesellschaft von einem Matriarchat zu einem Patriarchat entwickelte, wurden die Märchen, die ja aus jener prähistorisch-matriarchalen Zeit stammten, oftmals nicht mehr richtig verstanden, oder noch schlimmer, als bedrohlich empfunden. Die Patriarchen sahen die Märchen als Gefahr, denn sie vermittelten ein starkes Frauenbild und zudem eine Anleitung, wie man aus der Knechtschaft in ein glückliches und unabhängiges Leben finden konnte. Ein Tyrann braucht aber bekanntlich unglückliche und abhängige Menschen, damit seine Macht aufrechterhalten bleibt.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Finden wir deshalb in den heute bekannten Märchen fast nur männliche Helden?

Genau. Zur gleichen Zeit, wie die Gesellschaft vom Matriarchat zum Patriarchat wechselte, wurde auch der für meine Warte wichtige Mond vom Sonne- und Mondzyklus, das „weiblich-nährende“ Symbol, nicht länger in der Zeitrechnung berücksichtigt. Kalender wurden nun nur noch nach dem Zyklus der Sonne berechnet, was rechnerisch viel einfacher ist. Fortan verband man die Sonne mit dem Bild des strahlenden Helden. Jeder Herrscher wollte ein Sonnenheld sein, und damit entstand quasi ein neues Genre an Geschichten, die wir heute vor allem schriftlich kennen. Die Männer sind die strahlenden Ritter, die in erster Linie in den Krieg ziehen und Abenteuer erleben wollen, und irgendwo auf dem Nachhauseweg noch eine Frau retten und heiraten.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Mit „Frozen“, „Merida“, etc. werden die Prinzessinnen in den Kinos jetzt immer selbstbestimmter. Schätzen Sie das als Marketingtrend im Zuge des Feminismus ein oder ist es tatsächlich eine Rückbesinnung auf die prähistorischen, matriarchalen Märchen?

Es ist schön, dass es eine Gegenbewegung gibt und nun die Heldinnen im Kino wieder selbstbestimmter sind. Dennoch ist es meines Erachtens nur eine erste Reaktion auf die Überpräsenz der männlichen Sonnen- und Superhelden in unserer Kultur. Insofern ist es schon ein Gesellschafts- und Marketingtrend, der aber tatsächlich wieder in die Richtung der prähistorischen Weisheit unserer Vorfahren geht. Damals wusste man noch, dass das eigene Leben eine Heldenreise an sich ist, und dass man es so gestalten konnte, dass am Ende das Glück winkte.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Was können wir heute von Märchen lernen?

Von den Märchen können wir lernen, wie wir zwar selbstbestimmt werden und bleiben, aber dennoch gute Beziehungen führen können und im Einklang mit unserer Natur sind (gerade in Zeiten des drastischen Klimawandels ist das enorm wichtig). Nur so kann ein Fortbestehen unserer Spezies gewährleistet sein. In meinem Buch „The True Hero’s Journey in Fairy Tales and Stone Circles“ erkläre ich, wie die einzelnen Abschnitte der Heldenreise auf das Leben eines jeden heutigen Menschen angewendet werden können. Mit dieser Anleitung aus der ursprünglichen Heldenreise kann jeder Mensch sehen, worauf er oder sie achten muss, um ein Leben im Einklang mit sich, anderen und der Natur zu führen.

Bildquelle: Andrea Hofman

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Beitragsbild: Andrea Hofman