Mitfahrgelegenheit Kolumne Gespräch Bekanntschaft große Liebe Rentnerin Erinnerung

In der Mitfahrgelegenheit mit der großen Liebe

München-Berlin, Wien-Hannover. Fremde Autos, unbekannte Menschen, das Gefühl, endlich ankommen zu wollen oder am liebsten nie: Das ist das nur zu bekannte Prinzip Mitfahrgelegenheit, das wie eine Art Alltagsroulette mal für heiße Nummern auf dem Rücksitz sorgt (solls auch geben…) und mal nicht mehr und nicht weniger ist als die billigste Fahrt zur Hölle ist. Von diesen Geschichten und vor allem denen dazwischen, von den kuriosesten Erlebnissen, von Schlagabtäuschen bei 120 auf der Autobahn und absurden Bekanntschaften erzählen wir in unserer Kolumne „In der Mitfahrgelegenheit mit…“. Dieses Mal: Romantisches auf dem Beifahrersitz. 

 

Das folgende Erlebnis ist subjektiv und gekürzt wiedergegeben und beruht auf meiner Erinnerung.

 

Es ist sechs Uhr am Morgen und ich stapfe durch den Münchner Schnee. Mein Atem wird als eisig graue Wolke sichtbar, niemand ist zu sehen. Es ist seltsam still, ganz anders als tagsüber, wenn Arbeitende vorbeihasten und Kinder sich schreiend mit Schneebällen bewerfen. Leon neben mir sagt nichts. Typ Morgenmuffel, Marke Ohne-Kaffee-geht-gar-nichts.

Als wir in die Straße einbiegen, wo unsere Mitfahrgelegenheit abfährt, sehen wir schon von weitem eine Frau, die einen kleinen VW Polo belädt. Als sie sich umdreht, blicken wir einer alten Dame ins Gesicht, die sicher 75 ist. Tolle blaue Augen, zierliche Nase und ein faltiges freundliches Gesicht. Sie stellt sich als Elise vor und wenig später sitzen wir im klirrend kalten Innenraum. Ich vorne, weil ich es mag, mit den Fahrern zu reden während der Fahrt.

Sie würde ihre Schwester in Wien besuchen, erzählt Elise mir und ich antworte, dass wir uns über das Wochenende Wien ansehen würden. Einfach so, weil ich es beim letzten Mal wunderschön fand und Leon noch nie da war. Dann schweigen wir, warten, bis die uralte Heizung langsam ihr Werk tut und unsere bis ins tiefste Innere durchgefrorenen Körper aufwärmt.

Wir fahren auf die A8, vor uns schieben sich rote Lichter durch die leichten Nebelschwaden. Es dämmert, mit unter dem Schnee herabhängenden Ästen stehen die Bäume reglos neben dem vom Menschen in die Erde gestampften Weg nach Wien, so, als hätten nicht nur die müden Menschen in den Autos, sondern auch die Natur eine Winterdepression.

 

Ein Nicholas-Sparks-Film auf dem Beifahrersitz

 

Zwischen Simm- und Chiemsee schläft Leon hinten ein, mit offenem Mund haucht er seinen Atem gegen die Scheibe und und atmet regelmäßig ein und aus. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Gar nicht, um etwas Bestimmtes zu tun, sondern nur, um irgendwelche Mails zu checken, irgendwelche Nachrichten zu lesen. Symptom der Immer-Erreichbaren.

„Ihre Freundin?“, fragt Elise, die die Routine einer Vielfahrerin besitzt. „Nein, es ist komplizierter“, sage ich, während es draußen langsam hell wird. Die Sonne, die mir ebenso müde vorkommt wie Leon und ich, schiebt sich ganz langsam an den Stämmen der Bäume nach oben, schickt Strahlen durch das Dickicht und füllt das Auto mit Licht, immer, wenn wir eine Lücke im Wald passieren. Der Schnee glitzert dann und der Polo hat für einen kurzen Moment etwas sonderbar Erhabenes.

„Unglaublich, dass sich so vieles verändert, die Beziehung zwischen Mann und Frau aber immer kompliziert bleibt“, sagt Elise und lächelt leicht. „Warst du denn schonmal verliebt?“, fragt sie. Ich bin von der Direktheit ihrer Frage überrascht und sehe sie aus dem Augenwinkel an, wie da eine alte Frau auf der rechten Spur der A8 fährt. Das vergisst man oft; dass all die alten Menschen volle Leben hinter sich haben, mit eigenen Dramen und Geschichten.

„Wenn Du überlegen musst, warst Du es nie wirklich“, sagt Elise im sanften Ton der Wissenden. „Aber Du bist ja auch noch so jung.“ Und dann erzählt sie mir ihre Geschichte. Einfach so. Während der Motor monoton brummt und ein ihr Fremder hinten schläft, erzählt sie einem anderen Fremden von Jakob, von „ihrem Jakob“, und schon nach wenigen Minuten komme ich mir vor wie in den ersten Szenen eines Nicholas-Sparks-Films. Den Minuten, bevor die Szenerie wechselt und man das junge und bildhübsche Ich der Erzählerin Jahrzehnte früher sieht.

 

Es begann am See

 

Sie war 28, verheiratet, hatte einen kleinen Sohn. „Mein Mann, der Georg, war ein Guter. Er arbeitete viel, aber er war gut zu mir. Er hat mich geliebt und ich dachte, ich ihn auch.“ Sie traf Jakob am Badesee. Sie kam frühmorgens her, bevor Georg das Haus verließ. Er, weil er die Stille liebte, die sich in seinem Haus nur nachts breit machte – auch er war verheiratet, hatte Zwillinge. „Ein paar Mal sahen wir uns direkt an, aber natürlich sprach er mich nicht an und ich ihn nicht.“ Elise lacht laut. „Um Gottes Willen.“ Es kribbelte trotzdem. Bei beiden, wie Jakob ihr später erzählte.

Als der Sommer 1963 schon fast vorüber war, trafen sie sich wieder, auf einem Gemeindefest. Die Männer tranken Bier, die Kinder rannten frei herum, es gab eine Blaskapelle und einen Stand mit Losen. „Ich sah ihn zuerst. Er war mit Frau und Kindern da“, sagt Elise und man merkt, dass sie weit in die Vergangenheit zurückgereist ist. „Er sprach mich an, wahrscheinlich vom Bier beflügelt. ‚Gnädige Frau, darf ich mich Ihnen vorstellen‘, fragte er.“

Und mit diesem Moment, während die Blaskapelle laut dröhnte, Mann und Frau mit den Kindern bei den Bierbänken saßen, entstand etwas, was Elise „Zirkus“ nennt. Nicht abwertend. Sie meint das, was man damals unter Zirkus verstand. Etwas Zauberhaftes mit bunten Zelten, fremden Tieren, glitzernden Reifen und gefährlichen Feuerkunststücken. Etwas Außerreales. Der Zirkus begann mit heimlichen Treffen. Erst am See, dann seltener, in seinem Büro, als es kälter wurde. Geküsst hat er sie das erste Mal im November 1963, in seinem Auto. Als er sie einige Straßen vor ihrem Haus aussteigen ließ.

„Es machte uns glücklich und todunglücklich zugleich. Wir wussten, wir konnten unsere Familien nicht verlassen“, sagt Elise und ich nippe an meinem Tankstellenkaffee, während draußen die Sonne den Kampf gegen die Baumwipfel gewonnen hat und Schnee, Autobahn und unsere Gesichter leuchten lässt. Leon hinten schläft weiter tief und fest.

 

Elise sah Jakob nie wieder

 

„Was habe ich ihn geliebt“, sagt Elise und scheint mehr zu sich selbst zu sprechen als zu mir: „Nie wieder habe ich eine solche Leidenschaft empfunden.“ Im Frühling bat er sie, ihren Mann zu verlassen und mit ihm ein neues Leben in Magdeburg anzufangen, wo er einen Freund hatte, in dessen Firma er beginnen konnte. Elise erzählt vom inneren Kampf, von den Tränen der Trauer, der Wut. Sie erzählt, wie sie ihm ganz kühl – um ja keinen Rückzieher zu machen – sagte, es sei aus. Wegen ihres Sohns. Sie erzählt von seinen Tränen und von ihren, die sie später am See, wo sie ihn das erste Mal sah, einsam weinte. Sie erzählt, wie er wegzog. Mit Frau und Zwillingen. Und sie erzählt, dass sie ihn nie wieder gesehen hat. Und dass sie auch heute noch beinahe täglich an ihn denkt. Bis Georg vor vier Jahren verstarb, war sie mit ihm zusammen. Sie hat ihm nie von Jakob erzählt.

Wir schweigen schon eine ganze Weile melancholisch, als Wien nur noch 20 Kilometer entfernt liegt. Als wir aussteigen, bin ich ganz ergriffen von ihrer Geschichte und bedanke mich. „Ich hoffe, Sie erleben so etwas eines Tages auch“, sagt Elise und lächelt mich warm an. Leon steht mit zerknittertem Gesicht daneben und versteht nur Bahnhof.

Als wir mit unseren Rucksäcken durch die Wiener Winterstraßen laufen, fragt er mich nach der seltsamen Verabschiedung. Ich weiche aus und behalte die Geschichte von Jakob für mich. Das ist das Schöne am Autofahren mit Fremden: dass man für einige Stunden die kleine Welt des Auto-Inneren mit jemandem teilt und dabei von ihnen Erlebtes hört, das einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Leon fragt nicht weiter nach und so stapfe ich neben ihm durch den Schneematsch und wir reden über das vor uns liegende Wochenende. Über die Zukunft. In Gedanken aber bin ich in der Vergangenheit. Bei Elises und Jakobs Liebe.