Selbstversuch Blickkontakt zu Fremden

Selbstversuch: Schau mir in die Augen, Baby!

Von der Vaterfigur bis zur neuen Freundin

 

Die nächsten 2 Stunden werde ich Blickkontakt zu 7 Menschen haben. Dazwischen mache ich nur kurze Pausen, brauche einmal etwas zu trinken, manchmal brennen auch einfach die Augen vom vielen Schauen. Bricht man 120 Minuten auf die einzelne Person herunter, wird es aber doch sehr intensiv. Der erste Mann, dem ich in die Augen schaue, erinnert mich ein bisschen an meinen Papa und ich muss unwillkürlich grinsen. Ich versuche mich zusammenzureißen, als Ergebnis zittert meine Unterlippe wie blöd. Mein Gegenüber greift zum Smartphone, dann ist unser Moment vorbei. Die zweite Person ist eine Frau mit strengem, aber sympathischem Blick. Typ Lehrerin. Ich lächle sie extra freundlich an und versuche das Eis zu brechen. Es klappt nicht. Nach wenigen Minuten steht sie auf. Ich habe nicht lange Zeit für Verwunderung, dann sitzt mir ein neuer junger Mann gegenüber. Wir halten lange Blickkontakt, er hebt öfter seine Augenbraue und versucht, mich damit zum Lachen zu bringen. Ich lache gerne, aber beim fünfen Mal strengt es mich an und dieses Mal entscheide ich mich für einen Platzwechsel. Zweite Überraschung des Abends: Hier sind wirklich viele Männer. Das, muss ich zugeben, hätte ich nicht erwartet. Als nächstes schaue ich einem Blondschopf mit Brille in die Augen. Interessantes Gesicht, finde ich und schaue es mir ganz genau an. Das wird der längste Blickkontakt des Abends sein. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der bis über beide Ohren hinaus lachen kann. Er konnte es und wir brechen mehrmals in lautes Gelächter aus. Das ist zum Glück erlaubt. Ich verlasse den Stuhl nur, weil ich vom Abend noch mehr mitnehmen möchte. Es sind mindestens 20 Minuten vergangen. Ich gehe wieder in Richtung Eingang und setze mich. Wieder ein Mann, Anfang 30, schätze ich. Ich blicke in sehr schöne Augen und merke, dass ich rot werde. Wow, diese Eigenschaft habe ich bisher völlig ignoriert. Nach kurzer Zeit kann ich mich trotzdem entspannen. Langsam bin ich geübt und schaffe es eine ganze Weile dem ernsten Blick standzuhalten. Irgendwann möchte ich trotzdem wissen, wie dieses Gesicht lachend aussieht und versuche es mit dem Klischee der Ansteckungsgefahr. Als Reaktion hebt sich ein Mundwinkel und ich werde das Ganze noch ein paar Mal wiederholen. Irgendwann steht mein Gegenüber auf, ich rutsche weiter zu einem – Überraschung – Mann. Er gehört zum Organisationsteam und hat uns am Anfang begrüßt. Ein Profi also, denke ich und es wird lange. Nicht so lange jedoch, wie mit meinem letzten Blickkontakt, einer jungen Frau. Sie hat einen so warmen Ausdruck, dass ich bis zum Endsignal der Veranstalter sitzen bleibe und vollkommen entspannen kann. Nach unserem ersten Kennenlernen unterhalten wir uns und verlängern unseren Blickkontakt im Irish Pub.

 

Fazit

Es ist wirklich unglaublich, wie viel sich aus Augen herauslesen lässt. Die Menschen, mit denen ich lange und intensiven Blickkontakt halten konnte, waren mir danach auf angenehme Weise vertraut. Es ist auch ein sehr entspannendes Gefühl, einmal alle vorschnellen Urteile und Klischees fallen zu lassen. Denn um ehrlich zu sein, ist es genau das, was innerlich oft voll automatisch abläuft, wenn wir im Alltag beiläufige Bekanntschaften machen. Ganz anders, wenn es beim ersten Aufeinandertreffen gleich in die Vollen geht. Auch wenn man sich „nur“ in die Augen blickt, kann es schnell sehr intensiv werden. Ich kann mir nach diesem Abend wirklich vorstellen, dass dieses Experiment auch mit uns längst bekannten Menschen zu einer großartigen Erfahrung werden kann. Es ist unmöglich, die Emotionen zu ignorieren, die Augen nach kurzer Zeit von selbst erzählen: Traurigkeit, Verunsicherung, Lebensfreude, Ruhe, Spaß. Man muss nur zuhören und ich habe gelernt, dass wir dafür neben unseren Ohren noch ein großartiges weiteres Organ besitzen. Ich kann uns nur allen empfehlen, dass wir uns viel öfter in die Augen schauen.

P.S. Dritte und größte Überraschung des Abends: Zum ersten Mal in meinem Leben ist es mir nicht allzu schwer gefallen, zwei Stunden ruhig zu sein. Liebe Grüße an meine Freunde, es gibt Zeugen!

 

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Bildrechte: Karsten Schneeberger