sexuelle-belästigung

Stelle ich mich nur an, oder wurde ich gerade sexuell belästigt?

Ich bin eigentlich nicht sehr empfindlich. Blöde Sprüche kann ich meist mit einem einfachen Kopfschütteln oder Schultern zucken abtun, für dumme Anmachen habe ich oft einen passenden Konter parat. Doch es gibt Situationen, in denen ich mich unwohl fühle. Zum Beispiel, wenn beim Joggen ein laut hupendes Auto an mir vorbeifährt – betont langsam – und mich zwei dämlich breit grinsende Männer anstarren. Oder, wenn im Club plötzlich eine Hand auf meinem Po landet, ich mich erschrocken umdrehe, aber den Übeltäter nicht mehr ausfindig machen kann. Seine Blicke spüre ich trotzdem auf mir, und möchte am liebsten direkt nach Hause.

Von Situationen wie diesen erzähle ich eigentlich nie jemandem – vielleicht aus Sorge, als überempfindlich oder prüde zu gelten. Außerdem kommt sowas regelmäßig vor, ist fast schon zur Normalität geworden. Dass ich nachts auf dem Nach-Hause-Weg vorsorglich die Straßenseite wechsle, wenn ich eine Gruppe alkoholisierter Jungs erblicke, um Sprüchen oder Pfiffen zu entgehen, ist keine Seltenheit. Aber heißt dieses Gefühl von Normalität, dass ich mir alles gefallen lassen muss? Relativiert die Tatsache, dass mich Po-Grabscher, offensichtliches Starren in meinen Ausschnitt, oder sexuelle Anspielungen unter der Gürtellinie nicht mehr überraschen, deren Schwere und Unangemessenheit?

Neulich auf der Arbeit hat ein Kollege einen Witz über die Sexvorlieben rothaariger Frauen gerissen, um kurz darauf festzustellen, dass meine Haarfarbe ja auch mehr oder weniger eine Mischung aus rot und blond sei. Und ich? Habe nervös gelacht, mich plötzlich unsicher und unwohl gefühlt. Kein Konter, kein Gegenschießen. Stattdessen habe ich mir anschließend stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, ob ich prüde sei oder keinen Spaß verstehe – schließlich war das ja nur ein Witz, er hat mich weder angefasst, noch mir aufgedrängt. Stelle ich mich an? Oder wurde ich sexuell belästigt? Wo fängt sexuelle Belästigung eigentlich an?

Strafgesetzbuch: §184i Sexuelle Belästigung

Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) liefert dazu eine relativ klare Antwort: Es definiert sexuelle Belästigung als „ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, das bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betroffenen Person verletzt wird.“ Das Strafgesetzbuch ergänzt, dass sexuelle Belästigung dann beginnt, wenn für den Täter erkennbar ist, dass er gegen den Willen des Gegenübers handelt. Zeigt das Opfer beispielsweise durch Weinen, Nein-Sagen oder Wegdrücken Ablehnung und wird dies vom Täter übergangen, macht dieser sich strafbar und kann mit Geld- oder sogar Freiheitsstrafen bestraft werden. Genauso verhält es sich in Situationen, in denen das Opfer überrascht wird, zum Beispiel bei einem unerwarteten Griff an die Brust. Demnach kann quasi jede Körperberührung, die sexuell motiviert ist, zur Anzeige gebracht werden. Die Ausnahme: sozialübliche Verhaltensweisen, wie ein Kuss auf die Wange zur Begrüßung. Doch was ist überhaupt sozialüblich?

Paragraph 184i existiert übrigens erst seit November 2016, als nach einer Anzeige von Ex-GNTM-Teilnehmerin Gina-Lisa Lohfink, die zwei Männer der Vergewaltigung beschuldigte, eine öffentliche Debatte über sexuelle Belästigung losgetreten wurde. Kritiker sehen in dem Gesetz eine Überdehnung der Aufgabe des Strafrechts, da mittels dessen theoretisch jegliche körperlichen Annäherungsversuche strafrechtlich verfolgt werden können. Ist nun also Vorsicht geboten, wenn man beim nächsten Date den Arm um die Schultern des anderen legt?

Können Worte oder Blicke nicht auch belästigend wirken?

Was ich dabei problematisch finde: das Gesetz geht nur auf „körperliche Berührungen“ ein. Was ist mit anderen Formen der Belästigung? Können Worte oder Blicke nicht auch belästigend sein? Immerhin geben laut einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, die im Jahr 2012 rund 42.000 EU-Bürgerinnen zum Thema Gewalt gegen Frauen befragte, etwa 60% aller deutschen Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Dabei zählen neben „unerwünschten Berührungen, Umarmungen oder Küssen“, sprich körperlichen Berührungen, vor allem auch: Das Erzählen anzüglicher Witze oder Sprüche, das Versenden/Zeigen sexuell eindeutiger Fotos, Geschenke, SMS oder E-Mails, das Entblößen vor einer anderen Person, Nötigung zum Anschauen von pornografischen Inhalten zu den „Formen von sexueller Belästigung, die als äußerst schwerwiegend betrachtet werden können.“ Darüber wurden in der Studie weitere Formen der sexuellen Belästigung angegeben: Unangemessene Date-Einladungen oder Annäherungsversuche im Internet, z.B. Social Media, Kommentare und Fragen zum Aussehen und Privatleben, die als aufdringlich empfunden werden. Und offensives Starren

Fast überall der Zusatz: „durch die Sie sich angegriffen/beleidigt fühlten?“ Die Unerwünschtheit einer Handlung ist ausschlaggebend, ob einer der oben genannten Punkte als sexuell belästigend empfunden wird, oder eben nicht. Schließlich ist es ein Unterschied, ob der eigene Partner mich nackt zu Hause begrüßt oder sich ein völlig Fremder auf der Straße vor mir entblößt.

Moral und Respekt

Ich frage in meinem Freundeskreis nach. Was denken vor allem meine männlichen Freunde über das Thema? „Ich glaube schon, dass man sich durch Worte und Blicke belästigt fühlen kann“, meint Jannik, nachdem ich von Beispielen aus meinem Alltag erzähle und meine Freundinnen gleich mit einstimmen. Er habe das so zum Glück noch nie erlebt und sei überrascht, wie häufig wir Frauen damit konfrontiert würden. Moritz glaubt, der Witz meines Kollegen über rothaarige Frauen sei einfach ein schlechter Anmach-Versuch gewesen: „Der Typ wollte dich vermutlich nicht belästigen, sondern einfach nur flirten und ist dabei ganz schön auf die Klappe gefallen. Wahrscheinlich ist vielen Menschen oft gar nicht bewusst, dass sie mit ihren Sprüchen andere in Verlegenheit bringen können.“ Es ist ein schwieriger Balance-Akt zwischen „Die stellt sich ja an“ und „Ich fühle mich belästigt“, zwischen „Das war doch nur Spaß“ und „Das geht mir zu weit.“ Außerdem ist die Wahrnehmung von Person zu Person unterschiedlich, manche fühlen sich durch etwas belästigt, was für andere nur eine Lappalie ist. Zudem sind bestimmte sexuell motivierte Handlungen situationsbedingt und von der Beziehung zwischen den Beteiligten abhängig. Was ist die Intention des Täters? Mildert eine eigentlich gut gemeinte Intention, beispielsweise ein Flirt, die Umstände?

In einem sind wir uns alle einig: Die meisten alltäglichen Vorkommnisse sind wohl oft nicht erheblich genug, um strafrechtlich verfolgt zu werden. Natürlich möchte ich nicht gleich jeden für einen dummen Spruch, blödes Gaffen oder aufdringliche Fragen, die mich zwar stören, aber nicht weiter beeinträchtigen, anzeigen. Trotzdem gibt es eine moralische Grenze, die da verläuft, wo der andere anfängt sich durch unerwünschtes Verhalten seines Gegenübers unbehaglich zu fühlen. Um das zu erkennen, bedarf es eigentlich nicht viel außer ein Stück Sensibilität, etwas Menschenkenntnis und ein allgemeines Verständnis von respektvollem Miteinander.

Ich muss mir jedenfalls nicht alles gefallen lassen und darf ruhig meinen Mund aufmachen, wenn ich mich angegriffen fühle – ohne die Angst, als überempfindlich zu gelten. Und ich bin froh, dass es für den Fall der Fälle Gesetze gibt, die mich und meine Intimsphäre schützen.