Futur Generation Y

Zukunft: Machen wir Dinge nur noch, um sie erlebt zu haben?

Die Stadt hat jetzt schon eine Fahne. Es ist Samstagabend, zwischen den Ritzen meiner Rollos weht fremdes Gelächter ins Wohnzimmer, ein dumpfer Bass, das Zischen von frisch geöffneten Bierflaschen. Ich will was erleben! Nein, falsch. Eigentlich will ich gerade einfach nur in Jogginghose auf dem Sofa bleiben und gutes Eis und schlechtes Fernsehen konsumieren. Aber dieser nüchterne, ausgeschlafene Mensch will man nicht sein, wird man nicht sein, sagt man sich. Ich werde was erlebt haben, später.

 

One day baby…

 

Ich glaube, wir leben alle in verschiedenen Zeitzonen, nicht nur aus geographischen Gründen. Zweifler leben im Imperfekt, Nostalgiker im Plusquamperfekt. Die wenigsten stürzen sich kopfüber in den Präsens-Pool, nein, in Gedanken steht man lieber eingehüllt in Futur II und Frottee schon wieder abgetrocknet am Beckenrand. Die vollendete Zukunft ist nämlich ein bisschen wie Narnia oder der fertige Berliner Flughafen: ein magischer Ort, an dem wir alles schon gemacht haben werden.

Tun wir viele Dinge womöglich nicht, weil wir in dem Moment gerade Lust darauf haben – sondern nur, um sie erlebt zu haben? Um eines Tages auf eine bewegte Vergangenheit zurückblicken zu können? Sind wir Sklaven unseres eigenen postmodernen Erfahrungspostulats?

 

…we’ll be old

 

Eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Und dann sinniert man also schon darüber, wie man auf Dinge zurückschaut, bevor man sie überhaupt angepackt hat. Steckt da ein besonders schwerer Fall von Nostalgiephilie dahinter oder einfach pure Antriebslosigkeit angesichts der Überforderung, sein Leben mit Substanz zu füllen?

Julia Engelmann als „Stimme unserer Generation“ drischt mir mit ihrem Slam entgegen, man lebt nur einmal, lebe jetzt, mach was draus, du musst leben, arbeiten kannst du später, leb doch mal, aufstehen reicht nicht, atmen auch nicht, leb mal ein bisschen mehr, verstehst du, mehr, leben musst du verdammtnochmal. Puh, ist ja gut jetzt. Es scheint, als seien wir eine getriebene Generation, litten unter dem selbstauferlegten Druck, möglichst viel zu machen, zu erleben. Getreu dem Motto, schlechte Erfahrungen sind immer noch besser als gar keine. Dann bringen wir sie lieber mal schnell hinter uns.

 

Oh baby, we’ll be old

 

Dabei bemühen wir uns doch so, bamboocha zu sein, das Leben mit dem großen Löffel zu fressen. Die Frage aber, die man sich mal stellen sollte, ist doch: Wieso nehmen wir eigentlich den großen Löffel? Wahrscheinlich nicht mal, weil es so gut schmeckt – sondern, weil wir satt werden wollen. Schnell. Wir sind womöglich gar keine echten Adrenalinjunkies. Sondern süchtig nach Erfahrungen und aufregenden Erlebnissen, die wir sammeln wie übereifrige Streber ECTS-Punkte. Und der heroische yolo-Schlachtruf meint in Wirklichkeit auch nicht Live in the moment, sondern sehnt sich feige nach dem königlichen zweiten Moment, in dem das Ganze schon vollbracht ist.

Wir wissen nämlich, das Gestern von morgen ist besser als das Heute, auch wenn es rechnerisch gesehen vielleicht dasselbe ist. Aber, und da berufen wir uns doch wieder auf die liebe Mathematik, Erinnerungen währen länger als der Moment – ungefähr eine Periode mal so lang. Was, grob geschätzt, dann doch eine ganze Menge ist. Futur II ist unser safety net. Und dann gibt es ja noch diesen Schleier der Verklärung, der sich stets wie ein sanfter Sepiafilter über die Vergangenheit legt.

 

And think of all the stories that we could have told

 

Was ist da zuverlässiger im analogen Schönfärben als ein echter Sepiafilter? Auf Konzerten kann man seinem Lieblingsmusiker oft nur durch den Bildschirm im Bildschirm des Vordermannes zusehen. Kameralinsen sind wie das Auge der vollendeten Zukunft, Symbolträger unserer Futur-Zwei-Obsession. Im Jetzt drückt man auf den Auslöser, aber der Abzug, den man damit von der Gegenwart erstellt, ist letztlich vor allem dazu da, um in der Zukunft über die Vergangenheit zu reden. Viel und laut.

Asaf Avidan krächzt „Oh baby, think of all the stories that we could have told“, Julia Engelmann säuselt dazu „Also los, schreiben wir Geschichten, die wir später gern erzählen.“ Man könnte meinen, es gehe gar nicht mehr darum, zu genießen, sondern nur stur abzuhaken, um nachher Anekdoten im Ärmel zu haben, die beweisen, dass man es zu mehr im Leben gebracht hat, als sinnlos Kohlenstoff in die Troposphäre zu blasen. Hoppla, wir sind da vielleicht was auf der Spur: „Leben, um davon zu erzählen“ hießen schon die Memoiren von Gabriel García Márquez. Klingt ganz so, als wäre der kolumbianische Schriftsteller damit ein Trendsetter unserer Zeit. Ein bisschen exhibitionistisch, ein bisschen narzisstisch. Wer hat sich schon mal, noch während er etwas erlebt, bereits ausgemalt, wie er seinen Freunden davon erzählen wird? Machen wir uns doch nichts vor, wir machen fast nichts mehr für uns selbst. Und die Wurzel dieses Problems liegt scheinbar schon in den Zeiten der Cholera.

Wird die Freizeit also immer mehr zur Pflicht, die Freiheit zum Dogma? Zugegeben, das klingt jetzt alles recht dramatisch. Ist aber eigentlich auch nichts weiter als ein klassisches Erste-Welt-Problem. Man könnte auch einfach sagen: Macht euch mal ein bisschen locker. Bevor man eine Entscheidung trifft, kann man ja kurz innehalten und sich fragen, wieso man das macht.

Und wenn ihr auf das, was ihr vorhabt, einfach nur zurückblicken wollt, es euch in der vollendeten Zukunft, aber auch nur dort, verheißungsvoll entgegen glitzert, lasst ihn glitzern, den Scheiß. Es ist vielleicht sogar vollkommen in Ordnung, auch mal schlafen zu gehen, bevor die Wolken wieder lila sind. Seht es als eine Art subversives Faulheitsveto. Lasst dafür die Zeit auf der Zunge zergehen statt vergehen. Nehmt einen kleinen Löffel, aber genießt jeden Bissen. Das war’s dann auch jetzt mit den Ratschlägen, versprochen.

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Bildquelle: Pexels CC 0 Lizenz