Gegen die Spielregeln: Wenn einer mehr liebt
Kennen gelernt haben sie sich ganz klassisch: Er kannte einen Freund von ihr und sie fand ihn schon von Anfang an irgendwie süß. Man wurde einander vorgestellt. Die Blicke trafen sich ein bisschen länger als nötig und schon war es um die beiden geschehen. Nummern wurden getauscht, Treffen arrangiert. Man sah sich ein, zwei, dreimal und irgendwie war da dann sowas wie ein Paar: Zwei Menschen, die von nun an zusammen gehören. Ihre Beziehung lief – zumindest für die Menschen auf der Tribüne – blendend. Auf dem Spielfeld der Liebe sah das ganze leider ganz anders aus: Einer liebte mehr.
Erste Halbzeit: Null zu Null
Ganz einfach gesagt, ist die Kennenlernphase vielleicht die fairste, die es in einer Beziehung gibt. Es gibt einfach noch nicht so viele Gefühle, die verletzt werden können. Die Notbremse kann jederzeit gezogen werden und beide Parteien können zwar ein bisschen gedemütigt, aber ohne Langzeitschäden das Spielfeld verlassen.
Halbzeit
Spätestens jetzt hat sich mindestens einer der beiden für den Beziehungskurs entschieden und steuert diesen mit voller Kraft an. Der andere hingegen hat sich entweder noch gar keine Gedanken gemacht, oder im schlimmsten Fall, schon begonnen die ganze Sache halbherzig anzugehen.
Zweite Halbzeit: Eins zu Null
Und so schnell kann’s gehen: Das Liebesgleichgewicht kippt gewaltig und einer liebt ein Fünkchen mehr. Das Feuerwerk im Bauch des einen steht windigen Böllern in der Magengegend des anderen gegenüber. Während der eine also mit Kopfsprung in die Idee einer Beziehung springt, steht der andere noch zögernd am Beckenrand. Die „Geben und Nehmen“- Rechnung geht nicht mehr auf und einer zahlt zu viel.
Abpfiff
Das Foul ist perfekt: Einer ist verletzt, der andere läuft im schlimmsten Fall gestärkt weiter. Und genau da ist das Problem: In der Liebe ist da kein regeltreuer Schiedsrichter, der übermotiviert auf uns zustürmt und uns mit der Roten Karte vorm Gesicht herumwedelt. Nein, in der Liebe sind da nur zwei – und einer muss die ganze Sache jetzt beenden, bevor Langzeitschäden einen der beiden spielunfähig werden lassen.
Das Übergewicht der Liebe
Und was wir daraus lernen: Die Liebe für zwei ist einfach zu schwer für nur einen. Früher oder später knickt der Liebende unter dem Gewicht der halbherzig erwiderten Zuneigung ein und merkt, dass man sich mit dem, was man so mühsam den Beziehungsgipfel hinauf geschleppt hat, doch übernommen hat. Diese Einsicht kommt im besten Fall vor dem Absturz, ist aber leider, egal wann, eine schmerzhafte Erkenntnis. Dann bleibt nur noch ein reuevoller Abstieg – am besten ohne sich noch mal umzudrehen. Schließlich wurde bis zu diesem Zeitpunkt schon einiges in die Beziehung investiert.
Erwarten wir also einfach zu viel? Brauchen manche Menschen einfach mehr Zeit zum Lieben als andere oder verlaufen wir uns ziellos in einem Labyrinth ohne Ausgang? Man könnte meinen, es sei egoistisch, das gleiche Maß an Liebe von der von uns geliebten Person zu erwarten, denn was kann die schon für unsere Gefühle. Genau, rein gar nichts!
Der großartige Mike Skinner dachte offenbar sogar seine Freundin mag ihn weniger als er sie liebe: „Although I’m never sure and maybe I should want to be blind. I think I love you more, than you like me, because this is even crossing my mind.“ Wie er drauf kommt? Die leisen, aber stechenden Zweifel sind selbstverständlich ein Indiz und diese führen uns dann ganz oft in die Falle des Selbstbetrugs. Wir verschließen die Augen oder setzen zumindest die stark verdunkelte Sonnenbrille auf, wenn wir das kleine Häufchen Liebe, das in der Waagschale des Partners liegt, sehen.
Die Liebe auf der Waage
Denn sind wir mal ehrlich, wir wissen doch nie so ganz genau, wie es um die Gefühlswelt unseres Partners steht. Das ist aber, tief unten in unserem Herzen, das Ziel: Alt und zufrieden mit dem Partner seiner Wahl auf der Parkbank sitzen und sich hundertprozentig sicher sein zu können: Ich werde geliebt. Und zwar absolut. Ohne wenn und aber. Die dauerhaft verwirrte Generation Y rätselt hingegen ausdauernd, ob man nicht zu viel der eigenen Liebe und damit auch zu viel von sich selbst auf das Beziehung-Spielfeld geworfen hat. Und genau da liegt das Problem: Wir sind geizig mit unserer Zuneigung und deshalb tut es so weh, wenn wir herausfinden, dass wir alleine mit unseren Gefühlen da standen.
Dabei übersehen wir vielleicht das Rezept fürs ultimative Beziehungsglück: Gleichgewicht. Doch wäre Liebe einfach, dann wäre sie auch nicht so schön. Liebe hat keinen Körper und Liebe kann man nicht auf die Waage stellen. Rationalität hilft uns nicht weiter. Und genau deswegen kann uns, sind wir einmal verliebt, kein Schiedsrichter und kein guter gut gemeinter Tipp dieser Welt retten. „Erst denken, dann sprechen“, sagte einst unsere langweilige Deutschlehrerin zu uns. „Erst denken, dann lieben“ könnte ein altersgerechterer Ratschlag sein.
„Ich lauf nebenher, denn einer liebt immer mehr“ / Nachbericht
Schmacht-Sängerin Annett Louisan besingt in ihrem Lied „Einer liebt immer mehr“ genau diese Situation: Wenn einer einfach ein bisschen mehr an dem anderen hängt: „Ich wähl‘ deine Nummer, du bist kaum aus dem Haus, vermiss dich nach Stunden schon sehr, nicht an, gehst nicht ran vielleicht Akku leer, die Nacht bleibt ohne Funkverkehr. In den Straßen ist Winter, ich greif deine Hand, das hält einen Block ungefähr, du gehst durch die Stadt ich lauf nebenher, denn einer liebt immer mehr.“ Vielleicht ist Symmetrie in der Liebe, also zwei Menschen, die sich zu genau gleichen Teilen fantastisch finden, einfach unmöglich. Eine Rechnung, die nicht aufgehen kann? Schluss, aus, raus mit dem Traum der gerechten Liebe?
Wir müssen früher oder später einsehen, dass Liebe ein unsymmetrisches Konstrukt ist: Die Suche nach einem „möglichst deckungsgleichen“ Partner ist ein weitaus realistischeres Ziel. Unromantisch, aber wahr. Die Sache mit dem einen, wahren Seelenverwandten haben wir ja auch schon vor einiger Zeit aufgegeben. Warum also auf ein gerechtes System in der Liebe hoffen, wenn wir keinen Einfluss auf die Gefühle des Partners haben, außer unser bestes Ich zu sein – und da wird es ja dann doch wieder ein bisschen romantisch. Na, immerhin.
Die großartige Alin Coen hat den Spieß mal umgedreht und erzählt die (Liebes-)Geschichte aus der Sicht der Person, die eben nicht mehr geben kann. Das aber gerne würde:
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Bildquelle: Lechon Kirb/unsplash.com