Kopfkino in der Liebe

Kopfkino: Die Utopie einer perfekten Beziehung

Wir Menschen verfügen über eine schräge, aber auch wunderbar Gabe: die Gabe der Fantasie. Sie hilft uns, Tage zu überstehen, die beschissen laufen. Die sich nicht unserem Wunsch nach Perfektion unterordnen. Mit ihr malen wir sie spannender, interessanter, besser.

Vor allem zwischenmenschliche Beziehungen, seien sie noch so frisch und gerade erst im Entstehen, überladen wir mit Hoffnungen, die aus unserem Innersten kommen. Das ist zwar schön, aber genauso dumm – denn oft dauert das Leben dieser Seifenblasen nicht länger als ein paar unvergleichliche, aber vergängliche Momente. Und danach ist alles wieder so eintönig grau, wie es vor der Einmischung unserer Fantasie, vor der Hoffnung auf „Das könnte doch jetzt mal mehr werden!“, war.

 

Das erste Treffen: Game on

 

Der weise Voltaire hat einst erkannt: „Die Liebe ist ein Stoff, den die Natur gewebt und die Phantasie bestückt hat.“ Was der französische Philosoph so elegant umschrieben hat, ist nichts anderes als: Kopfkino. Es fängt doch schon in der Sekunde an, in der wir jemanden kennen lernen. Erste Blicke, ein erstes Gespräch. Ein, zwei, drei Schnapsrunden später an der Bar sind wir dem Gegenüber bereits so verfallen, dass wir uns wünschen, der Abend würde nie enden.

Aber der Abend endet – entweder bei ihm oder bei ihr, oder, wenn man ganz vernünftig war, ist man allein im eigenen Bett gelandet. Doch die Handynummern wurden ausgetauscht, es keimt die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Und bei jeder WhatsApp-Nachricht rast unser Herz, denn es könnte ja von dem spannenden Menschen sein, den wir erst vor ein paar Tagen kennen gelernt haben. Dass dieser andere, spannende Mensch vielleicht schon einen anderen, noch spannenderen Menschen als uns entdeckt hat oder vielleicht doch vergeben oder einfach nicht an etwas Ernstem interessiert ist – das taucht in unserer Gedankenwelt gar nicht auf. Denn das Kopfkino läuft schon auf Hochtouren und gaukelt uns eine Welt voller romantischer Möglichkeiten vor, an die wir nur allzu gern glauben.

 

Die Qual der Wahl

 

In Sachen Liebe steht die Wissenschaft nach wie vor vor einem riesigen Fragezeichen. Wie genau die Partnerwahl läuft, ist noch nicht geklärt. Eine Theorie entspringt der Evolutionspsychologie. Diese behauptet, dass wir jemanden wollen, von dem wir glauben, er sei besonders reproduktionsfähig. Die weiblichen Wesen bevorzugen sozioökonomisch starke Partner, die auch Nahrung für eine zehnköpfige Familie auf den Tisch zaubern können. Männer hingegen wählen laut dieser Theorie Partnerinnen aufgrund ihres guten Aussehens – nicht, weil sie oberflächliche Machos sind, sondern weil dies unterbewusst als Indikator für Gesundheit dient. Soweit die Theorie.

Eine Studie der LMU München hat diese Annahmen geprüft und kam zu dem Ergebnis: Auf der Suche nach einem festen Partner sind es vor allem Verlässlichkeit, die Übereinstimmung bei Werten, Sicherheit und Geborgenheit das, auf was es uns wirklich ankommt. Attraktivität und der soziale Stellenwert sind zweitrangig. Geht es uns jedoch nur um eine Affäre, nähern wir uns wieder der Theorie an: Männer gehen bei der Wahl nach dem Aussehen, Frauen legen sowohl Wert auf das richtige Verhalten als auch auf das äußere Erscheinungsbild des potentiellen One-Night-Stands. Ein Problem ergibt sich aber eben dann, wenn Männlein und Weiblein auf der Suche nach dem genauen Gegenteil sind – wenn der eine nur das Eine will, der andere aber etwas Festes. Diesen kleinen, aber feinen Unterschied bemerken wir normalerweise erst, wenn die romantische Geschichte ein unromantisches Ende nimmt. Und das „Happy End“, das doch schon über den Bildschirm in unseren Köpfen flimmerte, tritt im wahren Leben nicht auf.

 

Die Geschichte in der Geschichte

 

Zurück zum Kopfkino. Es hat also bereits nach der ersten Begegnung eingesetzt, die nicht stoppbare Vorführung wird gnadenlos abgespult. Und die Fantasie fängt an mit ihren Streichen, lässt uns an den Anderen denken und hoffen, ihm oder ihr – wer weiß – vielleicht morgen an der Uni oder bei der nächsten Elektro-Veranstaltung über den Weg zu laufen? Und – wer weiß – vielleicht ergibt sich dann wieder so ein zauberhafter Moment und es könnte mehr laufen und sogar ein wenig weiter laufen als bisher – nämlich in Richtung Zukunft, Dauer-Affäre, also letztendlich Beziehung?

Und dann kommt das nächste Treffen. Und es läuft wunderbar, es könnte gar nicht besser sein. Wir verbringen die Nacht mit dem auserkorenen Menschen, lassen uns noch ein Stückchen mehr auf unsere Fantasie ein, träumen weiter, bis uns die Realität letztlich ein- und überholt. Denn während wir davon geträumt haben, wie toll bestimmt auch die nächste Begegnung verlaufen wird, wie gut wir uns mit dem Anderen unterhalten werden, wie schön es danach sein wird, wenn man erneut zusammen heimgeht, haben wir einen entscheidenden Punkt übersehen. Nämlich den, dass unser Gegenüber ein Individuum ist, das nichts von unserer Spinnerei weiß. Und wiederum ganz anderen Vorstellungen nachjagt – sprich: einem neuen Abenteuer. Und wir stehen da, im kalten Regen, mit nichts in der Hand als der Frage: Wie, verdammte scheiße, konnte das schon wieder passieren?

 

Utopie einer perfekten Beziehung

 

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagt Beraterin Dorothee Glückler etwas, das nicht sehr überraschend kommt: Die Liebe ist die höchste Priorität im Leben – aber eben nicht nur die von Erwachsenen, bereits das Leben von Jugendlichen wird durch die Suche nach dem Partner bestimmt. Was gleich bleibt ist, dass jeder von uns sich eine perfekte Beziehung wünscht. Was natürlich Unsinn ist, denn Perfektion ist eine Utopie. Das World Wide Web hat hier laut der Ehe- und Sexualberaterin auch wieder seine Spinnenfinger im Spiel: „Das Internet fördert den Wunsch nach diesem besonderen und perfekten Partner. Es wird uns dort suggeriert, dass es ihn gibt.“

Es gibt ihn aber nicht. Nur in unserer Fantasie. Dorothee Glückler beschäftigt sich mit Ehepaaren, die vergessen haben, dass sie zu viel von ihrem Lebensgefährten erwarten. Sie will ihnen klar machen: „Es geht darum, sich von seinen eigenen unrealistischen Wünschen und Bedürfnissen und nicht unbedingt vom Partner zu trennen.“ Die Fantasie, die Vorstellungen, die aus ihr entspringen, hören also nicht auf, wenn wir in festen Händen sind. Sie bepinselt weiterhin unsere Augen und lässt uns auf eine andere Realität hoffen, als die, die sich wirklich vor uns ausbreitet. Aber das Ganze fängt ja schon an, sobald wir auf jemanden treffen, von dem sowohl unser Körper als auch unser Geist begeistert sind. Und wir hoffen wider jeder Vernunft darauf, dass dieser jemand sich als genauso herausstellt, wie wir uns ihn in vorbildlichster Mandala-Manier ausmalen.

 

Und wenn wir nicht gestorben sind, dann träumen wir noch heute?

 

Das Zimmern von Luftschlössern fordert seinen Preis. Sich Situationen schön zu pinseln und zu überinterpretieren führt dazu, dass wir wenig sanft an der Realität vorbeischrammen – und letztendlich an ihr zerbrechen. Ehe wir es begreifen, haben sich unsere Fantasiegebilde verdünnisiert und wir stehen wieder mit leeren Händen da.

Unsere Fantasie – sie ist wirklich eine wunderbare Gabe. Das Kopfkino ist die Projektionsfläche unserer Träume, Sehnsüchte und Wünsche. Es ist hübsch anzuschauen, nur fragt man sich irgendwann, ob sich der hohe Eintrittspreis wirklich lohnt. Oder ob wir nicht ab und zu die Vorstellung meiden und lieber ein wenig mehr auf dem Boden bleiben sollten.

Andererseits gilt auch für Träume, dass sie die richtige Zeit und den richtigen Ort brauchen, um wahr werden zu können. Nicht jeder Traum muss zwingend einer sein, der umgesetzt das Beste für uns wäre. Manche Luftschlösser müssen eben noch ein bisschen umgebaut werden, bis sie wirklich etwas sind, das zu uns passt. Und bis es so weit ist, können wir weiter machen – denn ohne unsere Träumereien wird unsere Sicht auf die Welt schnell trostlos, pessimistisch. Und wirklich besser ist das doch auch nicht.

 

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Bildquelle: Chris Sardegna unter cc0 1.0