Das Stockholm-Syndrom – zwischen Romantik & Ekel
In vielen bekannten Krimi-Filmen oder -Serien kann man ein immer wiederkehrendes Phänomen erkennen: die Opfer sympathisieren mit dem Täter. Manchmal verlieben sie sich sogar und bauen romantisch eine Zukunft miteinander auf. In der Realität gibt es dieses Verhalten auch und es ist durch das Stockholm-Syndrom zu begründen. Was genau ist das Stockholm-Syndrom? Und wie läuft es im echten Leben ab?
Die Sexualisierung des Entführers durch die Geisel. Dieses Muster kennen wir aus Filmen wie „King-Kong“, „V wie Vendetta“ oder „365 Tage“. In letzterem Erotikdrama „365 Tage“ wird eine junge Polin von einem Mafiaboss entführt, damit sie sich in ihn verliebt. Und Spoiler-Alarm: das tut sie. Der Film bekam bei Netflix viel Aufmerksamkeit und hatte ein Millionenpublikum. Aber warum kommt diese Fetischisierung so gut an? Eigentlich verrückt. Parallel dazu verliebt sich in der bekannten Serie „Haus des Geldes“ die junge Bankmitarbeiterin Mónica Gaztambide in Denver, einen ihrer Geiselnehmer. Zuschauer schwärmen von der dramatischen Liebesbeziehung und freuen sich, als Mónica sich den Geiselnehmern anschließt. Sie erhält den Namen „Stockholm“.
Die Geburtsstunde des Phänomens
Das Stockholm-Syndrom scheint also eine beliebte Geschichte in Filmen und Serien zu sein. Im Gegensatz dazu graut es einem vor der Realität. Denn das Phänomen trägt seine Wurzeln – wer hätte es gedacht – in Stockholm. Am 23. August 1973 stürmte der bewaffnete Jan-Erik Olsson eine Bank. Dabei schrie er „the party has just begun“ und leitete damit eine fast sechstätige Geiselnahme ein, die unter Bewachung der weltweiten Presse und der Polizei stand. Dabei hielt er vier der Anwesenden in einem Tresorraum fest. Drei Frauen, einen Mann. Und erstmalig in der Geschichte konnte etwas beobachtet werden: Die Gefangenen schienen mit ihrem Geiselnehmer zu sympathisieren, sie mochten ihn, wollten ihn vor der Polizei schützen. Dies ging aus Telefonaten der Polizei mit den Geiseln hervor. Als nach knapp sechs Tagen die Geiselnahme aufgelöst werden konnte, baten die vier Opfer um Gnade für Olsson und eine der Geiseln verlobte sich später mit ihm. Klingt nach Stoff für einen weiteren Netflix-Film.
Die psychologische Sichtweise: Wie kann so etwas passieren?
Aber wie ist das Verhalten der Gefangenen zu erklären? Wie kann man jemanden mögen, der das eigene Leben so massiv bedroht? Die Antwort liegt bereits in der Frage. Dadurch, dass sich die Geiseln in diesem Ausnahmezustand befinden und eine tiefe Existenzangst verspüren, erleiden die meisten einen Realitätsverlust. Sie sind nicht mehr in der Lage klar zu denken. So verdrängen sie die Todesangst und Bedrohung und beugen sich der Gefahrensituation. Sie verstehen plötzlich die Beweggründe des Geiselnehmers besser, können sich teilweise sogar in ihn hineinversetzen. Das ist einfacher als sich gegen ihn zu stemmen, denn das könnte sie schließlich ihr Leben kosten. Da der Geiselnehmer die volle Kontrolle über die Situation hat, können sie sich dann sogar geborgen bei ihm fühlen. Je länger die Gefangenschaft anhält, desto mehr wird also der eigentliche Täter zum Retter, da er sich um die Geiseln geringfügig kümmert, die Polizei hingegen wird zum Feindbild. Dies kann passieren, da die Polizei sehr sensibel agieren muss, um kein Leben zu bedrohen. Geisel können sich dadurch einsam und von der Außenwelt vernachlässigt fühlen, und auch das treibt sie in die Arme des Täters. Hinzu kommt, dass die Geisel und der Geiselnehmer dasselbe Ziel haben: das bestmögliche Ende. Also eines, bei dem alle am Leben bleiben – und das geht aus Sicht der Geisel am einfachsten, wenn die Bedingungen des Täters erfüllt werden. Wird das nicht gemacht, erhärtet sich das Feindbild „die böse Außenwelt“.
Das Stockholm-Syndrom ist also dem psychischen Ausnahmezustand geschuldet, den die Gefangenen erleiden. Es ist ein Abwehrmechanismus, den Täter zu mögen. Er scheint wohlwollend zu sein, kann seinen Opfern gut zureden und hat die volle Kontrolle über diese. So kann also auch eine Art Liebe entstehen. Ob gewollt oder nicht. Betroffenen wird übrigens geraten sich psychologische Hilfe zu suchen, um so die Erfahrungen aufzuarbeiten und eventuell zu entromantisieren. Spannend bleiben die ganzen Filme und Serien rund um das Phänomen trotzdem – was auch nicht verwerflich ist. Und mit dem neuen Hintergrundwissen kann man vielleicht beim nächsten Kinoabend glänzen, sicherlich aber auch für den ein oder anderen „Aha-Moment“ sorgen. Wir Menschen sind schon ein wenig verrückt.
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Bildquelle: Pexels; CCO-Lizenz