Frau im Mantel sitzt mit dem Rücken zur kamera auf eier Steinmauer und schaut auf eine Stadt hinunter

Wortschatz: Stadt – Land – und jetzt?

Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, hat mehr Kühe als Einwohner. Und wie viele Dorfkinder bin ich mit Abschluss der Schule dieser Enge entflohen und in eine Großstadt zum Studieren gegangen. Wenn ich mittlerweile zurück auf’s Land komme, werde ich wegen meines Nasenpiercings gerne mit ebendiesen Kühen verglichen.

Mein Leben in drei Kisten

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Als ich damals von Zuhause ausgezogen bin, passte mein Leben in drei Umzugskisten, die ich mit dem Auto meines Vaters zu meiner ersten WG fuhr. 

Mein Studium geht zu Ende und dadurch die Zeit in der Großstadt auch erst einmal. Bis neue Pläne ausgereift sind, werde ich bei meinen Eltern leben und arbeiten. Deshalb muss ich meine Habseligkeiten wieder in Kisten quetschen, übrigens dieselben drei von meiner Ankunft. Dieser Akt hat etwas Reinigendes. Bei jedem Gegenstand poppt im Kopf die Frage auf: Was brauche ich wirklich? Was bleibt übrig von dreieinhalb Jahren Leben und neuer Stadtidentität? All das passt in ein kleines Auto, das ich mir – mittlerweile von Freund*innen – geliehen habe. Mit dabei ist allerdings auch ein ganzer Schatz an Erfahrungen, welche mich zu der Person geformt haben, die ich heute bin. Die zuhause wegen ihres Aussehens spaßeshalber mit Kühen verglichen wird und nicht nur dadurch merkt, dass sie nicht mehr komplett in ihr Umfeld passt. 

Manche meiner alten Schulfreund*innen halten mich für linksradikal, weil ich die Ansicht vertrete, dass das Patriarchat noch existiert und Flüchtlingen geholfen werden muss anstatt sie abzuschieben. Meine Großeltern sagen, dass alle Studierten die Nase zu weit oben haben und ich aufpassen sollte, dass ich nicht auch so werde. 

Großstadtarroganz

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Und ich bemerke immer wieder, wie die Großtadtarroganz von mir Besitz ergreift. Ich belächle Menschen, die jede Woche wieder mit dem gleichen Getränk in der Hand in der gleichen Bar sitzen und mit den gleichen Leuten über die gleichen Witze lachen. Ich stelle mich automatisch über diejenigen, die nie aus ihrem Heimatort herausgekommen sind und meine, mehr über das Leben zu wissen als sie. Dabei hat jede*r seine eigene Art, mit dem Leben umzugehen und ich spüre das nie so stark wie am Ort meiner Kindheit. 

Ich kann in der Großstadt so individuell und alternativ wirken wie ich möchte, sobald ich nach Hause komme, bin ich diejenige, die früher regelmäßig verplant in Hausschuhen zu Schule gekommen ist und am Abiball nach Hause getragen werden musste, weil sie nicht mehr laufen konnte.

Stadt-Ich vs. Land-Ich

Im Gegensatz dazu entscheidet mein Stadt-Ich sehr viel freier, wer es sein möchte. Die Anonymität der Stadt macht es möglich, dass ich an einem Abend nüchtern im hippesten Techno-Schuppen bis in die Puppen feiere und im Morgengrauen zum Baden in ein Schwimmbad einsteige, während ich mir am Tag danach um zwei Uhr nachmittags zu meinem veganen Granola-Frühstück den dritten Sekt bestelle und keiner hält mich für verklemmt oder einen Alki. Diese ständige Sich-Selbst-Inszenierung bringt aber auch einen gewissen Druck mit sich, man hat ja auch nur super alternative und coole Menschen um sich, mit denen man natürlich mithalten möchte. Und manchmal fühlt man sich eben nicht wie sein cooles Großstadt-Ich sondern wie ein kleines, sehr verwirrtes Dorfkind, das sich diese Hülle nur angezogen hat, um dazuzugehören. Diese Gedanken kommen regelmäßig, wenn ich meine Eltern besuche und ich brauche sie, um selbstreflektiert zu bleiben.

 Mein Land-Ich konzentriert sich stärker auf die wesentlichen Dinge im Leben. Es hat weniger Freiheiten, sich selbst zu gestalten und deswegen kann die Hirnkapazität, die normalerweise auf die Frage „Wie will ich sein?“ verwendet wird, tiefgreifendere Überlegungen behandeln. Auch wenn es mir manchmal schwerfällt, diese beiden Teile meines Charakters in mir miteinander zu verknüpfen, bin ich dankbar für alle Erlebnisse, die diese Seiten an mir hervorgebracht haben, da sie mich zu dem Menschen machen, der ich heute bin.

Fernweh – oder doch Heimweh?

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Ich habe mich nie als einen Menschen gesehen, der sehr an einem Ort hängt. Schon als Kind hatte ich immer Fernweh, allerdings nie Heimweh. Selbst als ich mit zehn Jahren zum ersten Mal zwei Wochen auf einem Austausch in Frankreich war, habe ich dieses bittersüße Gefühl nicht kennengelernt. Dafür musste zuerst eine zu Anfang fremde Stadt mein Zuhause werden. Wenn ich nachts mit meinem Fahrrad durch die Straßen nach Hause gefahren bin und kein einziges Mal auf Google Maps nach dem Weg suchen musste, kamen mir manchmal die Tränen bei dem Gedanken, die Stadt mit den vielen Einbahnstraßen und den verschnörkelten weißen Gebäuden zu beiden Seiten bald verlassen zu müssen. 

Nicht im Traum hätte ich geglaubt, dass ich mich in meiner Wahlheimat einmal mehr zuhause fühle als an dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Die Stadt gibt mir das Gefühl, als ob ich sie wie einen engen Freund zeitweise zurücklassen müsste, mir aber sicher bin, dass wir uns wieder sehen werden. Der Wegzug ist kein Abschied, eher eine temporäre Veränderung auf meinem Lebensweg und deswegen sage ich auf Wiedersehen, nicht Leb wohl. 

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Stadt – Land – und jetzt?

Stadt – Land – und was kommt dann? Fluss? Sollte ich jetzt also Urlaub auf einem Hausboot machen? Alles Neue, das mit einem Umzug einhergeht, macht unsicher und man stellt sich Fragen wie es jetzt weitergeht. Aber es bringt auch Möglichkeiten mit sich und gerade diese Offenheit der Zukunft ist ein Luxus, dem man sich immer wieder bewusst machen sollte. Vielleicht mache ich es einfach wie die Kühe in meinem Heimatdorf: das Leben auf dem Land genießen und sehen, was kommt.



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