Schüchtern

Angst vorm Ansprechen: Die Bürde der männlichen Schüchternheit

Immer wieder schaue ich auf die Uhr, während ich vor der Bar auf meinen Kumpel Matthias warte, der sich offenbar wie immer verspätet. Der Rauch meiner Zigarette verharrt einige Momente in der bitterkalten Luft, um sich anschließend langsam mit ihr zu vermischen. Ich ziehe mir die Mütze, die eigentlich als modisches Accessoire dienen soll, über die Ohren und befreie sie von ihrer Zweckentfremdung. Eine unentwegt kichernde, merklich angetrunkene Mädchengruppe zieht vorbei, einige von ihnen prosten mir mit imaginären Gläsern zu. Ich nicke freundlich zurück.

Als Matthias endlich ankommt und seine Verspätung auf die Münchner Verkehrsgesellschaft schiebt („du hättest ja schon mal reingehen können“), kommt eine junge Frau uns auf den Treppen entgegen, die ins Innere der Bar führen. Ihre wunderschönen blauen Augen strahlen, sie lächelt mich an, sodass es mich kurzfristig paralysiert und verschwindet gleich darauf in den Untiefen der Nacht. „Die fand dich wohl ganz gut“, grinst Matthias, nicht, ohne mir im selben Atemzug augenzwinkernd reinzuwürgen: „Aber du hättest sie sowieso wieder nicht angesprochen. Denk dran: Frauen wollen erobert werden!“

Diese verdammte Faustregel, die vermutlich so alt ist wie die Menschheit selbst. In Männer-Zeitschriften werden ganze Listen abgedruckt, die einem Kerl Tipps dabei geben sollen, wie das „Erobern“ funktioniert. Manche haben daraus eine Art Sport entwickelt, nennen sich Pick-Up-Artists.

Weder Dating-Attila noch Pick-Up-Napoleon

Doch was, wenn man nicht der geborene Eroberer ist? Kein Dating-Attila, der mit einem gescheiten Spruch sofort Aufmerksamkeit generiert, kein Pick-Up-Napoleon, der selbstbewusst auf die Tanzfläche geht und sie am Ende garantiert nicht alleine verlässt? Wenn man derjenige ist, der das allabendliche Spektakel nur aus der Ferne beobachtet und sich allenthalben fragt, was der Typ, der die süße Blonde gerade in ein Gespräch verwickelt hat, jetzt Weltbewegendes angestellt hat?

Dann hat man die Schlacht (um bei der Eroberer-Metaphorik zu bleiben) schlicht verloren. Weil man zu schüchtern ist. „Du musst die Frauen einfach mal ansprechen“, bekomme ich dann als Ratschlag mit auf den Weg gegeben, wenn ich mich eben genau das wieder mal nicht getraut habe. Toller Hinweis, danke.

Und so nehme ich mir vor, es beim nächsten Mal aber nun wirklich zu machen, Mut zu fassen und dann in der Bar an den Tisch zu gehen, wo die Frau sitzt, die mir gefällt – „einfach“ mal selbstbewusst sein. Wenn es dann so weit ist, wird aus Selbstbewusstsein Selbstzweifel, das Bierglas, das vor mir steht, ist immer halbleer, nicht halbvoll.

Sämtliche Rollenbilder haben sich im Laufe der Jahrhunderte, im Zuge der Emanzipation verändert, nur dieses eine bleibt im steinzeitlichen Bewusstsein stecken. Jäger und Sammlerin, unumkehrbar in Stein gemeißelt. Das war schon immer so.

Die Bürde der Schüchternheit

Versteht mich nicht falsch, ich bin in sämtlichen anderen Lebenslagen kein Feigling, würde mich sogar als sehr offen und kommunikationsfreudig beschreiben. Auch an Selbstsicherheit mangelt es mir nicht. Aber wenn es um diese Frauen-Ansprech-Geschichte geht, ist es, als läge jemand in meinem Kopf einen Schalter um, der mich diesbezüglich handlungsunfähig macht, vor allem aber auf das Niveau eines zwischenmenschlichen Tieffliegers befördert. Ständig frage ich mich, warum das so ist und finde keine passende Antwort.

Klar liegt ein Teil der Ursache darin, dass manche Menschen eben unsicherer sind als andere. Es gibt die Sorte Männer, die sich – auf gut Deutsch gesagt – nichts scheißen, die einen etwaigen Korb eben locker wegstecken und nicht mit sich hadern, sondern einen neuen Versuch starten, sobald sich die Gelegenheit bietet. Und es gibt diejenigen, die im Falle einer Ablehnung alles in Frage stellen. Kurz gesagt: zu viel nachdenken, die Schüchternheit mit sich tragen wie eine unsichtbare, schwergewichtige Bürde.

Gerade in meinem Fall ist es aber nicht so, dass mich irgendein dahingehendes Ereignis besonders negativ geprägt hat – im Gegenteil. Vielmehr dient meine Zurückhaltung als Schutzreflex, frei nach dem Motto: „Wenn ich es nicht versuche, besteht auch nicht die Chance, dass ich enttäuscht werde.“ Ganz schön dämlich, oder?

Wie der Abend endet

Matthias reißt mich plötzlich aus meinen Gedanken. „Meinst du, ich hätte Chancen bei der kleinen Dunkelhaarigen dahinten? Die schaut die ganze Zeit her.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, steht er auf und geht schnurstracks zu ihrem Tisch und spricht sie an, fünf Minuten später hat sich ein angeregtes Gespräch zwischen den beiden entwickelt, immer wieder tätschelt sie seinen Arm, wenn er wieder irgendetwas offenbar unglaublich Komisches gesagt hat.

Ich trinke mein Bier in einem Zug aus, werfe mir den Parka über und gebe Matthias Bescheid, dass ich nach Hause fahre. Er nimmt mich in seinem Wahn überhaupt nicht wahr, sondern gibt wild gestikulierend eine Anekdote aus seinem Ski-Urlaub zum Besten, die sich wahrscheinlich ganz anders abgespielt hat.

Als ich die Schwingtüre etwas zu heftig aufstoße, merke ich, wie mich jemand am Ärmel zieht, drehe mich rum und schaue in das makellose Gesicht und die gleichen blauen Augen, die mich einige Stunden zuvor schon beinahe um den Verstand gebracht hatten. „Willst du etwa schon gehen?“

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Bildquelle: Andrew Neel unter CC0 Lizenz