Die Vergessenen: Ein Besuch im bosnischen Geflüchtetenlager Lipa

Zusammen mit zehn weiteren jungen Journalist*innen fahren wir früh morgens in Zagreb los. Wir sind auf einer Recherchereise meiner Universität zum Thema Migration an der EU-Außengrenze. Angespannt sitzen wir im Auto, während wir ein paar Stunden bis an die Grenze zu Bosnien-Herzegowina fahren. Ohne Probleme kommen wir durch die Kontrollen, selbstverständlich für uns. Man denkt nicht weiter darüber nach. Wir sind auf dem Weg zu einem Ort, an dem das für die Menschen dort hingegen überhaupt nicht selbstverständlich ist. Wir besuchen das Geflüchtetenlager Lipa. 

Lipa Grundfakten

  • Containersiedlung für Geflüchtete in Bosnien und Herzegowina
  • an der kroatischen Grenze, nahe der Stadt Bihać 
  • großer Brand zerstörte das Lager fast vollständig im Dezember 2020, wieder aufgebaut
  • aktuell ca. 300 männliche Bewohner
  • früher auch Frauen und Kinder, diese leben nun in anderen Lagern
  • Geflüchtete haben meistens Kroatien und die EU als Ziel
  • errichtet vom Staat, mit Unterstützung von NGOs und dem Roten Kreuz vor Ort

Nach einer langen Fahrt durch die Wälder Bosniens rollt unser Van schließlich auf den Vorplatz des Lagers. Ein wenig Staub wirbelt auf als die Reifen zum stehen kommen. Es liegt sehr abgelegen, in der Umgebung gibt es kilometerweit nichts. Mehrere Männer schauen neugierig auf unseren Van, und wir etwas verunsichert zurück. Stark getönte Fensterscheiben trennen uns in diesem Moment noch von der Situation da draussen. Es ist ein sinnbildlicher Moment, ein Vergleich der ganzen Situation. Wir sehen sie, aber sie uns nicht.

Die Aufregung steigt. Für jeden von uns ist es das erste Mal in einem Geflüchtetenlager. In mir macht sich ein Gedanke breit: Was wird mich nun erwarten? Wie reagieren die Menschen auf uns? Genervt? Abweisend? Oder genau das Gegenteil? Ich könnte jede Reaktion verstehen. Aber ich möchte nicht zu voreingenommen an die Sache herangehen, ich möchte mich ganz neutral auf den Gegenüber einlassen. Zumindest so weit, wie das überhaupt gehen mag.

Cc: Charlotte Gross-Hohnacker

Wir steigen aus.

Ich bin einer der letzten, der in die heiße Mittagssonne tritt. Der Boden ist staubig und dürr, die Luft trocken. Wir befinden uns inmitten einer großen Lichtung. Rund herum gibt es sonst nur Nadelwald. Hohe Gitterzäune und Betonpfeiler mit Überwachungskameras umgeben das Gelände, es wirkt fast wie ein Gefängnis. Dahinter stehen unzählige Container, Reihe an Reihe. Alles ist weiß und grau, es sieht eintönig und trostlos aus. Einladend ist definitiv anders. Zwei Wachmänner in blauen Uniformen stehen vor dem Eingang und reden mit unserer Koordinatorin Isabella. Sie hat das Ganze organisiert und muss sich um den Einlass kümmern. Ich schaue mich derzeit um und sehe einen kleinen Kiosk gegenüber des Eingangs.

Mein Kommilitone Pascal sitzt bereits davor auf einem wackligen Plastikstuhl und unterhält sich mit drei jungen Männern. Ich setze mich dazu und wir haben ein interessantes Gespräch mit ihnen, über Gott und die Welt. Es verlief ganz anders als ich es mir vorgestellt habe, weil es eben nicht nur um die ganzen negativen Erfahrungen der Männer ging, sondern zum Beispiel auch darum, was sie am liebsten kochen oder, dass sie auf dem Sportplatz des Lagers immer zusammen Cricket spielen. Das ist hier sehr populär, denn viele der Bewohner stammen aus Pakistan, wo Cricket durch den Einfluss des britischen Commonwealth eine der beliebtesten Sportarten ist.

Plötzlich ruft uns Isabella. Wir dürfen rein.

Wir gehen alle zusammen durch das Tor, begleitet von mehreren Wachmännern. Es fühlt sich komisch an, so durch die Container-Reihen zu gehen. Ich sehe einen extra abgesperrten Bereich für Neuankömmlinge, die dort bei Ankunft im Lager erst einmal hineinmüssen, bis klar ist, dass sie kein Corona haben. Mehrere Männer stehen am Gitterzaun, während andere Bewohner von unserer Seite ihnen Zigaretten und andere Gegenstände hindurch reichen. 

Es formt sich eine kleine Traube um uns und manche meiner Kommilitonen fangen sofort an, auf die Menschen zuzugehen und sich eifrig zu unterhalten. Doch ich bin erst einmal wie gelähmt. Ich weiss plötzlich nicht mehr, was ich sagen wollte. Also stelle ich mich erst einmal zu einem Kommilitonen und höre ihm bei seinem Gespräch zu. Dann bringe ich mich langsam mit ein, stelle ein zwei Fragen und lasse ansonsten erst einmal alles auf mich wirken. So werde ich langsam warm mit der Situation.

Einer der Geflüchteten und ich nach unserem Gespräch. CC: Privat

Ein junger Mann erzählt uns von den Wunden, die er auf seiner Flucht erlitten hat und zeigt uns einige Narben. Dazu erzählt uns ein anderer, wie brutal auch die kroatische Polizei mit den Menschen umgeht. Diese Erzählung von Gewalt ist nicht die einzige an diesem Tag. Fast jeder, mit dem ich spreche, erzählt von der brutalen Methodik der Pushbacks der kroatischen Polizei. 

Die Aussagen zusammengefasst: “Sie schlagen und verprügeln uns.”, “Sie zwingen uns, die Klamotten auszuziehen und nehmen uns alle unsere Sachen ab.” “Im Winter haben Sie uns unsere Schuhe weggenommen und wir mussten barfuß durch den Schnee zurück laufen.” 

Es waren erschreckende Erzählungen. Ich habe zwar bereits zuvor von den Pushbacks in den Nachrichten gehört, aber diese so hautnah erzählt zu bekommen, hat mich wütend gemacht. Erschreckend, wie sadistisch die Methoden sind.