Die Vergessenen: Ein Besuch im bosnischen Geflüchtetenlager Lipa

Fast alle, mit denen ich mich unterhalte, sprechen von einem ganz bestimmten Spiel, dass die Bewohner des Lagers spielen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen normalen Ballsport. Ganz im Gegenteil. “The Game”, nannten sie es. Sätze wie: “Tomorrow i go game”, “we play game every week for years”, “i got this scar from the game”, höre ich oft. 

Aber worum geht es in diesem mysteriösen Spiel, von dem die Geflüchteten reden?

Die Antwort ist eine traurige. 

Das “Game” bezeichnet den Versuch, unerlaubt die Grenze zu passieren. Gewonnen ist das Spiel, wenn man es geschafft hat, Kroatien unentdeckt zu betreten und nicht wieder zurückgeschickt zu werden. Letzeres ist aber fast immer der Fall. Die Wahrscheinlichkeit zu verlieren ist ziemlich hoch.

Dabei laufen sie zu Fuß durch weite Waldgebiete, von denen manche sogar noch alte Minenzonen aus dem Jugoslavien-Krieg sind. Sie erzählen mir, dass ihnen das egal sei, die alten Minen würden nicht mehr funktionieren. Das stimmt so allerdings nicht, es sind immer noch viele Minen aktiv. Im ganzen Land gibt es bis heute Minensäuberungsarbeiten. 

Lipa. Cc: Charlotte Gross-Hohnacker

Obwohl die Überquerung der Grenze so gefährlich und schwierig ist, lassen sich die Menschen kaum davon abhalten, es weiter zu versuchen. “Was soll ich sonst tun?“ fragt einer. “Ich habe keine Wahl. Ich bin nicht drei Jahre auf der Flucht gewesen, nur um jetzt aufzugeben. Wenn ich es nicht überleben sollte, dann ist das eben so. Zurück in mein Heimatland werde ich nicht gehen, die Scham vor meiner Familie wäre zu groß. Sie glauben an mich, sie haben viel in mich investiert.” 

Zur Erklärung: Viele der Männer ziehen als große Hoffnung der Familie los, um es mit dem Geld bis nach Europa zu schaffen. Dort sollen sie dann arbeiten und diese Investition zurückzahlen, um das Leben im Heimatland oder weitere Übergänge zu finanzieren. Aus diesem Grund wollen viele der Männer nicht mehr zurück. Dass sie lieber sterben würden, zeigt wie ernst die Lage ist.  

Eine letzte Begegnung vor dem Abschied

Nach weiteren, sehr interessanten Gesprächen müssen wir auch schon wieder vom Gelände. Da wir noch warten müssen, bis wir losfahren, schaue ich kurz noch in den Kiosk hinein. Der kleine, enge Laden ist bis unter die Decke vollgestopft mit verschiedensten Lebensmitteln aus aller Welt und hilfreichen Dingen wie kleinerem Werkzeug oder Sim-Karten. Eine junge Frau sitz auf einem kleinen Holzhocker und lächelt mich an. Sie fragt, wonach ich suche. “Ich schaue mich nur um”, antworte ich. 

Ein junger Mann kommt in den Shop und wir fangen an zu reden. Er ist einer der Bewohner des Lagers und stellt sich vor, er heißt Essam. Essam stammt aus Ägypten und fragt mich, wie ich hier her gekommen bin. “Aus Kroatien”, sage ich, “Mit dem Bus über die Grenze vorhin.” “Wie denn das?” fragt er zurück, “die Grenze ist doch zu? Da darf doch keiner rüber. Deswegen warte ich hier seit zwei Jahren.” Ich antworte nach einer kurzen Pause: „So hart das klingen mag, aber ich kann mit meinem deutschen Pass einfach über die Grenze, und du mit deinem leider nicht. Das ist der Unterschied.” “Achso, verstehe”, sagt er und wendet sich ab.

Ich klinge hier vielleicht für manche Ohren unverblümt und direkt, aber ich wollte es meinem Gegenüber in diesem Moment einfach exakt so erklären, wie die Realität nun einmal aussieht. Egal wie unfair es auch scheinen mag. Nach dem Gespräch wandert meine Hand unterbewusst zu meiner linken Hosentasche. Ich fühle meinen Pass. Er fühlt sich nun ganz anders an, viel schwerer. Ich erkenne zum ersten Mal seine Bedeutung, was für ein unfassbares Privileg das eigentlich ist.

Eine Geste der Freundschaft

Essam kauft sich eine Packung Sonnenblumenkerne. Solche, die man einzeln vor dem Verzehr mit den Zähnen aufknacken muss. “Möchtest du auch welche haben?”, fragt er mich. Zuerst möchte ich ablehnen. Es scheint mir unfair, sein Essen zu nehmen. Aber dann nehme ich das Angebot doch dankend an. Es wäre unhöflich gewesen seine Geste zu unterschlagen und so kommen wir weiter ins Gespräch. 

Schließlich gehen wir nach draußen, wo meine Kommilitonen schon auf mich warten. “Ich muss los”, sage ich und wir verabschieden uns. Ich steige zu den anderen ins Auto und schaue ihm und den anderen Männern zu, wie sie uns zum Abschied winken. Der Motor startet und wir fahren los. Ich blicke ein letztes Mal durch die Scheibe zurück. Die Gestalten werden kleiner und kleiner, bis sie ganz verschwunden sind. Dann sind wir auch schon auf dem Weg nach Sarajevo, wo unsere Recherchereise weitergeht.

Was ein Tag. In mir finden sich gemischte Gefühle. Ich bin dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte, dass ich die Geschichten hören konnte. Gleichzeitig bedrücken die Erzählungen der Geflüchteten natürlich, ich vergleiche viel mit meinem eigenen Leben.  Über welche Kleinigkeiten ich mich immer aufrege, das kommt mir jetzt alles lächerlich vor. Ich weiss, dass es nun meine Aufgabe ist, die Situation der Geflüchteten mit meinen Berichten an die Öffentlichkeit zu bringen. Denn über diese Menschen wird viel zu wenig berichtet, sie sind von der Mehrheit quasi vergessen. Die Ukraine-Krise zieht viel Aufmerksamkeit auf sich. Es ist richtig und gut, dass den Geflüchteten aus der Ukraine so toll geholfen wird, aber warum nicht auch diesen Menschen? Warum werden sie einfach vergessen? Ich hoffe, mit diesem Bericht ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse für die Geflüchteten an der EU-Außengrenze etwas mehr geweckt zu haben.  

(Die Namen der Geflüchteten in diesem Beitrag wurden geändert, die Gespräche sind aus dem Englischen übersetzt.)


Hier gehts zum Interview mit Jerko Bakotin, einem kroatischen Journalisten, der direkt in der Grenzzone verdeckte Aufnahmen und Berichte der Pushbacks anfertigt und so die Ausmaße der Gewalt aufdeckt. Er erzählt unter anderem, wie es die Politik bis hin zur EU wissentlich einfach hinnimmt.

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Bildquelle:  Privat