fluechtling-kenan

Kenan aus dem Iran: Ein Flüchtender erzählt uns seine Geschichte

Kenan ist 31 Jahre jung, stammt aus einer sechsköpfigen Familie und hat sein Herz an den Fußball verloren. Für ZEITJUNG hat er seine berührende Geschichte erzählt. Hier findet ihr den ersten Teil seiner Flucht aus dem Iran.

Von Dennis Melzer

Die rot-weiße Schranke, die den Weg auf den kleinen Parkplatz versperrt, öffnet sich unter klagender, ächzender Anstrengung, beinah widerwillig, um gleich – nachdem ich sie passiert habe – langsam wieder in ihre lauernde Ausgangsposition hinunter zu sinken. Ich steige aus dem Auto, der Matsch unter meinen Füßen drückt sich in die Rillen des Schuhprofils und schmatzt mit jedem meiner Schritte, bis ich den Asphalt erreiche. Es ist ungemütlich an diesem 27. Dezember 2016. Nebel hat sich wie ein unheilvolles Tuch über die Gebäude, die Bäume und die kopfsteinbepflasterten Wege gelegt, in der Ferne nehme ich Schreie wahr, die noch durchdringender sind als die feuchte Kälte. Schreie, die aus dem tiefsten Inneren der menschlichen Angst zu kommen scheinen und mir jäh einen Schauer über den Rücken jagen.

Ich kenne diesen Ort nur allzu gut. Nahezu täglich brachte ich Menschen mit den verschiedensten psychischen Erkrankungen hierher, als ich meinen Zivildienst als Krankenwagenfahrer für die Berufsfeuerwehr absolvierte. Von Burnout-Patienten über Alkohol- sowie Drogensüchtige bis hin zu den echten Härtefällen, die wegen akuter Selbst- oder Fremdgefährdung gegen ihren Willen in polizeilicher Begleitung eingewiesen wurden, habe ich alles miterlebt. Heute bin ich erstmals als „Besucher“ in der Stiftung. Ich möchte Kenan abholen, einen iranischen Flüchtling, den meine Mutter in einem anderen Krankenhaus kennengelernt hat. Die Geschichte des jungen Mannes hat sie so berührt, dass sie ihm unbedingt helfen wollte – und wenn es nur ein Essen, das nicht an das geschmacksneutrale, krankenhäusliche Einerlei erinnert, das wahlweise als Brot, Käse oder Reis getarnt daherkommt. Einfach mal rauskommen aus der Einsamkeit der sterilen PVC-Böden und der nackten, hellhörigen Rigips-Wände. Ich schreibe bereits seit Wochen über Whatsapp mit Kenan, der mir sein Einverständnis gab, diese Geschichte zu veröffentlichen.

 

Albträume – Nacht für Nacht, trotz Schlaftabletten

 

Angekommen an dem Haus, in dem er untergebracht ist, das aufgrund der nebligen Szenerie den Anschein erweckt, als hätte Christo sich dazu entschlossen, eine Jugendherberge aus den 1970er Jahren in Polypropylengewebe zu verpacken, sehe ich Kenan im Eingangsbereich stehen. Er raucht eine Zigarette und ist für diese Jahreszeit viel zu dünn angezogen. Ich tippe ihm auf die bibbernde Schulter, er dreht sich zu mir um, aber scheint mich nur bedingt wahrzunehmen. Seine tiefbraunen Augen sind gerötet und wirken leer – es ist offensichtlich, dass er unter medikamentösem Einfluss steht. „Ich bin es, Dennis“, sage ich und merke gleichzeitig, dass er mich plötzlich erkennt. Er umarmt mich und flüstert ein kaum vernehmbares „Hey, Bro“. Auf dem Weg zum Auto erzählt er mir in perfektem Englisch, dass es ihm im Moment nicht gut geht, schildert mir, dass er von Albträumen geplagt wird – Nacht für Nacht, trotz Schlaftabletten. Bei uns Zuhause angelangt, empfangen ihn meine Eltern herzlich, nehmen ihn in den Arm, reichen selbst gebackene Plätzchen und Getränke. Er bedankt sich immer wieder für die Selbstverständlichkeiten, ist zu bescheiden, sich ohne Aufforderung an oben Genanntem zu bedienen.

„Ich habe Angst“, sagt er auf einmal, während er das puderzuckerbestäubte Vanillekipferl in seiner Hand betrachtet: „Angst um meine Familie im Iran.“ Mit einem Mal – als hätten Kaffee und Plätzchen seine medikamentenbedingte Lethargie aus dem Körper gespült – sprudelt es aus ihm hinaus. „Alle meinen Verwandten leben noch im Iran, ich habe aber nur Kontakt zu meinen Schwestern, und ab und zu spreche ich mit meiner Mutter. Mein Vater tritt nie in direkten Kontakt mit mir, lässt höchstens über meine Schwestern ausrichten, dass er sich um mich sorgt.“ Ich frage ihn, warum sein Vater nicht persönlich mit ihm sprechen möchte. „Ich bin dort eine Persona non grata. Menschen, die mit mir kommunizieren, leben gefährlich, machen sich vielleicht sogar strafbar. Mein Vater befürchtet, seinen Job zu verlieren. Er ist ein recht hohes Tier in einer Firma, die eng mit der Regierung zusammenarbeitet.“ Ich frage: „Was hat denn die Regierung damit zu tun, und was sollte die für ein Interesse daran haben, mit wem dein Vater telefoniert?“. Sein Blick wird finster, während ein flüchtiges, verbittertes Lächeln über seine Lippen huscht.