„Schatz, du nervst!“ – Eine Abrechnung mit der Langzeitbeziehung
So, da seid ihr nun: Ihr habt mittlerweile über mehrere Jahre Beziehungsgeschichte geschrieben, keine wichtige Episode eures Lieblingsmenschen verpasst und die Klotür sperrt ihr schon lange nicht mehr ab. Eure gemeinsamen Freunde kennen euch nur zusammen, wenn man sie fragt, wie lange ihr ein Paar seid, können sie nur antworten: „Keine Ahnung, eeewig schon!“. Jetzt habt ihr vielleicht eine gemeinsame Wohnung, in der ihr liebevoll über die Küchenfarbe diskutieren konntet und selig lächelnd auf dem Balkon zwei Gläser Rotwein in der Abendsonne getrunken habt, nachdem ihr Einweihungs-Sex auf der Matratze am Boden hattet. Vielleicht redet ihr schon von Kindern – ach, machen wir uns nichts vor: natürlich redet ihr von Kindern – und die Idee des gemeinsamen Lebens wächst und verfestigt sich.
Soviel zu den Basics. Die machen nämlich quasi alle Paare genau so. Und ja, eure Beziehung kann außergewöhnlich super sein. Du bist verliebt, der andere ist nämlich deine perfekte Ergänzung. Er ist unheimlich lustig, sehr belesen und leidenschaftlich ist er auch. Ihr wacht zusammen auf, ihr schreibt euch einmal die Stunde in den acht Stunden, die ihr euch nicht seht, ihr kocht gemeinsam das Bio-Huhn vom Stadtmarkt, guckt einen französischen Noir-Film und rumpelt dann gemeinsam ins Bett. Und trotzdem: manchmal drehst du den Schlüssel in der Haustür um, hörst den Anderen schon in der Bude und könntest schon loskotzen: Weil er dich auch manchmal einfach richtig hart nerven kann.
„Ich liebe dich, aber du bist grad ein Arschloch!“
Tatsächlich ist das nicht mal die krasseste negative Gefühlsäußerung, denn wenn wir ehrlich sind, haben wir schon viel schlimmere Dinge über unsere bessere Hälfte gedacht oder im schlimmsten Fall sogar laut ausgesprochen. Und wisst ihr was? Ihr seid damit nicht allein und ja, es ist leider ganz normal. Ihr seid in einer Langzeitbeziehung!
Die Tage der romantischen Verabredungen zum kurzen Espresso beim Türken um die Ecke sind vorbei, du hast den anderen mittlerweile in Zuständen gesehen, die all zu viel Überraschung und Romantik nicht mehr so zulassen. Und das muss nichts schlechtes bedeuten, denn Romantik ist nicht das Grundrezept für eine funktionierende Beziehung. Langzeitpaare haben in erster Linie eine absolut überwältigende Vertrautheit zueinander, ihr kennt den anderen fast so, wie ihr euch kennt.
Denn ja, Paare werden gemütlich und das kann im Kleinen beginnen. Aus „Ich liebe dich, mein Herz!“ wird eher so „Kaufst du noch Milch?“. Ungeachtet dessen, dass das auch einen faden negativen Beigeschmack hat, ist das leider ein absolut normales und unaufhaltsames Ding. Ist man für so viele Jahre ein Paar, verliert man leicht das Gefühl für die Notwendigkeit großer Gesten und ständiger Liebesbeschwörungen. Das frisch verliebte „happy go lucky“-Ich lässt morgens noch kleine Botschaften auf dem Küchentisch, bevor es zur Arbeit fährt – das „drei Jahre in einer Beziehung“-Ich hängt stattdessen eher müde vor der sich aufheizenden Kaffeemaschine rum und ist froh, dass es überhaupt aus dem Bett gekommen ist.
Von eurer besten Seite müsst ihr euch schon lange nicht mehr zeigen
Und an dieser Stelle liegt die Krux der Komfort-Zone: Rucki-zucki habt ihr einen ganzen Sonntag miteinander nur in der Unterhose verbracht. Das ist sehr gemütlich, ja. Aber nur, wenn ihr es beide macht und es so richtig geil findet. Ihr stoßt nämlich auch auf Tage, an denen ihr den Anderen in der schlabbrigen ausgewaschenen Unterbuxe seht und ihr merkt, dass das Unterhosen-Tag Nummer drei ist. Und dann sagt ihr was und zwar was saugemeines. Der andere ist verletzt, weil die Buxe ist ja nur ein Zeichen seiner vertrauten Gemütlichkeit zu dir und du denkst dir: Wann haben wir aufgehört, uns für den Boy oder das Girl schön zu machen? Zieh ’ne Hose an, Digga!
Von Selbstständigkeit zur Symbiose
Das, was ihr sagt, wird direkter, unverblümter und ehrlicher. Mit mehr Gefühl kommt mehr Befindlichkeit – und auch mehr Wut. Ihr habt euch ja schließlich „für den Rest eures Lebens“ für den anderen entschieden, ergo soll der Rest des Lebens auch so sein, wie ihr es gerne hättet. Und darin liegt das Paradoxe: Viele Paare werfen dem Anderen vor, er würde nur noch an sich selbst denken. Tatsächlich ist das Problem ein anderes: Wir denken oft zuviel an den Anderen!
In jeder Beziehung passiert es, dass Partner irgendwie lautlos ineinander morphen, denn sie teilen die selben Lieblingskneipen, Lieblingsessen, Lieblingszukunftspläne. Vieles machen sie nur noch zu zweit: Theater, Filme und Essen gehen. Freitags wirkt die Couch gemütlicher als der wummernde Club mit dem Flackerlicht. Deshalb ist es immens wichtig, sich selbst dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Freundschaften zu pflegen und dem Anderen seinen Freiraum zu lassen. In einer gemeinsamen Wohnung können zwei eigene Zimmer Wunder bewirken. Jeder seins, jeder wahrt den Raum des Anderen. Passt ihr nicht gut genug auf eure Selbstständigkeit auf, könnt ihr irgendwann nur ätzend zueinander sein, wenn ihr jeweils so nicht macht, wie der andere es gerne hätte.
Bewusst Abstand nehmen und ihn wahren!
Das heißt, den Boy nicht zu fragen, wann endlich sein Fußballspiel zu Ende ist. Oder das Girl zu fragen, ob es sein musste, das dritte Paar Sandalen zu kaufen. Lasst eurem Partner seine eigenen Entscheidungen und Vorlieben. Hört auf zu quengeln, wenn er grad nicht auf’s selbe Bock hat wie ihr. Und genießt Zeit für euch alleine, denn um so wertvoller wird dann wiederum die gemeinsam verbrachte Zeit. Wenn ihr wollt, dass der Partner den Rest eures Lebens mit euch verbringen will, dann sorgt dafür, dass er euch des Rest eures Lebens auch noch nett findet.
Denn nur weil man alles immer zusammen macht, heißt das nicht, dass man eine funktionierende Beziehung führt.
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Bildquelle: Gabby Orcutt via Unsplash unter cc0