Protest Polen Demo Smartphone

Wir waren in Warschau auf der Straße mit den Menschen, die ihre Freiheit verteidigen

Es ist ein klirrend kalter Tag. Es ist Samstag, die Temperaturen sind auf -15 Grad gesunken. In Warschau liegt gefrorener Schnee auf den Straßen, Teile der Weichsel sind zugefroren. Trotzdem treffen sich an diesem Vormittag fast 20.000 Menschen, um gegen die neu gewählte Regierung zu protestieren. Sie sind alt, sie sind jung, sie trotzen der Kälte, skandieren, singen, springen, sie schwenken die polnische Fahne – und auch die europäische.

Es braucht nicht viel, um Menschen zu mobilisieren. Ein Rednerpult, eine Boxenanlage, eine Facebook-Veranstaltung: Der Rest passiert von ganz allein, Menschen strömen vor die Kanzlei der Ministerpräsident. Inmitten – vielleicht aber auch am Rande – der Menschentraube finden sich Kleinhändler, die Heißgetränke und Demonstrationsaccesoires wie Flaggen oder T-Shirts verkaufen. In einem mobilen Kaffeehaus gibt es einen Americano und die linksliberale Gazeta Wyborcza, Polens auflagenstärkste Tageszeitung, für 9 Zloty, umgerechnet zwei Euro. Die Demo ist ein Gewerbezweig.

Sie ist aber auch der bereits vierte angemeldete Protest seit Regierungsantritt der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im November 2015. Was war passiert? Weshalb strömen nun Massen nach gerade ein mal drei Monaten auf die Straßen, obwohl die Regierung doch demokratisch legitimiert ist?

Zum einen wurde die Justiz entmachtet, indem das Verfassungsgericht neu besetzt und der Justizminister zum Generalstaatsanwalt ernannt wurde. Zum anderen stehen die öffentlich-rechtlichen Medien fortan unter staatlicher Aufsicht. Der neue Programmdirektor der Rundfunkanstalt TVP: Jacek Kurski, ein regierungsnaher Parteifunktionär. Im Sejm, dem polnischen Parlament, regiert die PiS mit absoluter Mehrheit. Jedem Gesetzesentwurf ist die legislative Zustimmung sicher. Auf ZEIT-Online führen drei polnische Journalisten ein Tagebuch des Verfalls. An diesem Samstag liegt der Fokus der Demonstrierenden auf einem Gesetzesentwurf, der der Polizei die Internetüberwachung und Vorratsdatenspeicherung schon im Verdachtsfall garantieren soll. „Statt uns abzuhören, sollt ihr uns zuhören“, steht auf einem gebastelten Banner.

 

Abschottung statt Annäherung

 

Auf dem Rückweg: Man spürt die eigenen Zehen nicht mehr, die Wärme des Taxis tut gut. Aus den Boxen tönt Radio ZET, ein populäres Unterhaltungsradio. Pawel Werner ist ein 62 Jahre alter Taxifahrer, er redet leise und bescheiden, sucht immer wieder nach den richtigen Worten. Paweł entspricht dem Typ bread and butter: Ein Warschauer Junge, im südlichen Stadtteil Ursynów aufgewachsen, sein Leben lang schon Taxifahrer, weder eitel, noch allürenhaft. Dabei sind es Menschen wie er, die zur Wähler- und Anhängerschaft der PiS gehören. Diese hat die Parlamentswahl mit einer Umverteilungsdebatte gewonnen: Kindergeld, früheres Rentenalter, soziale Leistungen – insbesondere Niedriglöhnern wie Paweł wurde viel versprochen. Doch der Taxifahrer zeigt sich  besorgt: „Wie stellt sich die neue Regierung das vor? Vorhaben wie das Kindergeld sind für uns nicht finanzierbar“, redet er sich für kurze Zeit in Rage. Seine Kritik richtet sich nicht nur an die Finanzierbarkeit der Wahlversprechen. Auch die Abschottung von der EU und der Widerwillen, Flüchtlinge aufzunehmen, stören Werner.

„Merkel, die hat es halt auch übertrieben. Das war schon ein großer Fehler, so viele Flüchtlinge aufzunehmen“, sagt Paweł wieder ganz zweckrational und leise, „trotzdem ist es unverantwortlich, sich in dieser Debatte so weit zu distanzieren wie unsere polnische Regierung. Gerade wir, gerade wir Katholiken, die genau wissen, was es heißt vor Krieg zu fliehen, wir müssten es eigentlich besser wissen.“

Die Flüchtlingsdebatte ist ohnehin ein brisantes Thema – und exemplarisch für einen neuen polnischen Kurs, der auf Abschottung und nationale Souveränität setzt. Die Vorgängerregierung sagte im vergangen Jahr zu, 2.000 Kontingentflüchtlinge aus Griechenland und Italien aufzunehmen. Eine eigentlich lächerlich geringe Anzahl. Die Hilfesuchenden werden noch dieses Jahr kommen. Trotz der überschaubaren Zahl: Die Flüchtlinge wecken Ressentiments. Angeführt vom Ruch Narodowy, der Nationalbewegung, formieren sich Proteste, bevor die Flüchtlinge überhaupt ihre Quartiere bezogen haben. Am Wochenende werden Demonstration gegen Islamisierung in 16 EU-Staaten erwartet, darunter auch in Breslau und Warschau. Zu Gast: AfD-Postergirl Tatjana Fensterling. Auch an der Flüchtlingskrise zeigt sich: Polen wendet sich von der EU ab und verweigert die Aufnahme von Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten. Für die sonst stets erzkatholische Regierungspartei PiS gelten christliche Tugenden wie Nächstenliebe nur für Menschen gleichen Glaubens. Die nationale, katholische Identitätskonstruktion ist größer als der Eifer, als Teil der EU mitzuhelfen.

Daheim vor dem Fernseher: Noch während Kundgebungen laufen, zeigt der staatliche Nachrichtensender TVP.info eine Rede des Parteichefs Jarosław Kaczyńskis vor einem wissenschaftlichen Symposium – statt Demonstrationen in 34 polnischen Städten. Gestern werteten die TVP-Abendnachrichten die Tatsache, dass am Samstag keine K.O.D.-Proteste stattfanden, als erste Auflösungserscheinung der Bewegung. Stattdessen wurden in den Abendnachrichten Szenen aus Dover und Stockholm gezeigt – wo besorgte Bürger gegen Flüchtlinge demonstrierten.

 

Ein Polen, das boomt

 

Die neue Regierung erzürnt aber nicht nur alteingesessene Rationale wie Paweł, sondern auch junge Menschen. Artur Sierawski ist der Vorsitzende des Młody K.O.D., des jungen Komitees zur Verteidigung der Demokratie. Er ist 23 Jahre alt, wohnt außerhalb Warschaus und ist neben seines Studiums Geschichtslehrer. An diesem Samstag wird er derjenige sein, der als erster kommt und letzter geht Seine Mannschaft und er, sie haben starken Zulauf, sind früh erschienen, ausgestattet mit Bannern und Transparenten. Sie werden auf die kleine Bühne der Demonstration geladen, wo eine Art Fackelübergabe stattfindet: Die grau gewordenen Bürgerrechtsprotestler des K.O.R., des Komitees der Arbeiter, das einst die Proteste gegen die Unrechtherrschaft der Kommunisten anführte, beschwören Artur und seine jungen Mitstreiter, den Weg weiterzugehen. „Ich habe PiS nicht gewählt und bin mit ihren Positionen nicht einverstanden. Ich bin ein Gegner der Politik, die derzeit realisiert wird und dagegen, die Freiheitsrechte, die uns durch die Verfassung zugesichert werden, einzuschränken“, ruft Artur ins Mikrofon. Das ist deswegen interessant, weil für den Wahlerfolg der PiS nicht zuletzt junge Wähler mitverantwortlich waren. Fast 30% der 18- bis 29-Jährigen wählten die PiS im Oktober, 60% Präsident Andrzej Duda im Mai 2015.

 

Warum fühlten sich junge Menschen von einer euroskeptischen und nationalen Partei vertreten?

 

Die Frage drängt sich auch deshalb auf, weil es Polen bis dato gut ging. Das Land galt als Vorzeigestaat Europas, verzeichnete seit mehr als zehn Jahren ein jährliches Wirtschaftswachstum von bis zu 7%, blieb von der Finanzkrise 2009 nicht betroffen. Fragt man nach gelungener Integration osteuropäischer Staaten in die Europäische Union, wird Polen stets als Erfolgsmodell genannt. Das Land mit der ersten Verfassung Europas, gerade einmal 25 Jahre unabhängig, es prosperiert, und das seit Jahren.

Michał und Monika sind beide Ende 20, arbeiten in Werbeagenturen, wohnen in Warszawa-Stary Mokotów, einem der angesagtesten Stadtteile Warschaus. Sie bereisten beide das Ausland, schlossen ihr Studium ab – und sind schließlich nach Warschau gezogen, wo Henryk, ihr erster Sohn, zur Welt kam. Michał sitzt in einem der vielen Kaffeehäuser des Stadtzentrums, er besitzt ein Geschäfts- (iPhone 5) und ein Privattelefon (Huawei), er spricht schnell und aufgeregt. „Polen, und Warschau insbesondere, boomt! In unserer Agentur bedienen wir Kunden wie EA Sports mit FIFA, Heineken, Rolls Royce und Armani, global Player also, die sich vor zehn Jahren noch niemand in Polen hätte vorstellen können.“ Heute, so Michał, habe man ein Lebensstandard erreicht, „der vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar war.“

Michał und Monika wissen: Der Aufschwung hat System. Die Fussball-Europameisterschaft 2009, EU-Fördergelder, Schengen und offene Grenzen, etablierte Industriezweige und ein sich sukzessive entwickelnder Dienstleistungssektor. „Wir haben Angst, dass die neue Regierung das alles zu Nichte macht“, sagt Monika leise. Wenn Artur Sierawski auf der Demonstration erklärt, er würde „für ein freies, demokratisches Polen; für ein Polen, das jedem von uns am Herzen liegt“ kämpfen, dann meint er das Land, das Michał und Monika zur Festanstellung und guten Gehältern innerhalb einer funktionierenden Demokratie verholfen hat. Er meint gewiss nicht das Land, das die Regierungspartei PiS nun formen will. Denn die juristischen und medialen Umgestaltungen waren nicht Teil ihres Wahlprogramm – vielleicht erklärt auch das die Wahl der jungen Wähler ein stückweit.

 

Budapest und Warschau liegen nah beieinande

 

Michałs und Monikas Angst, sich an etwas zu gewöhnen, woran man sich nicht gewöhnen will, kommt nicht von ungefähr. Polen orientiert sich am Modell Budapest, wo Präsident Viktor Orbán seit 2010 als Ministerpräsident die Fäden zieht. Er drückte den staatlichen Medien ebenfalls einen regierungstreuen Kurs auf, beschnitt Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit und riegelte die ungarischen Staatsgrenzen ab. Vor zwei Wochen fand ein Treffen Jaroslaw Kaczynskis mit Viktor Orbán statt. Vergangene Woche verabschiedete die polnische Regierung Gesetze, die Steuern auf Umsätze von Supermärkten und Fremdkredite von Banken erheben. Eine Änderung des Wahlrechts, die die Grenzen der Wahlbezirke neu ziehen würde, sogenanntes Gerrymandering, steht noch aus, wird aber bereits debattiert. Alle drei Reformen haben eines gemeinsam: Sie wurden so oder so ähnlich auch in Ungarn durch Orbán durchgesetzt.

Deswegen findet sich auch der junge ungarische Aktivist Balazs Gulyas bei der Samstagdemonstration wieder. „Ich weiß, wonach das riecht, liebe Polen“, brüllt er der trötenden und pfeiffenden Menge entgegenen, „wir bestreiten bereits diesen Weg der Unfreiheit, an dessen Ende der totalitäre Staat stehen wird.“ Gulyas ist extra aus Budapest angereist, er will die Polen davor warnen, was in seinem Land bereits traurige Realität geworden ist. Michał Kijowski, der Vorsitzende der K.O.D.-Bewegung, IT-Experte, Blogger und Artur Sierawieckis älteres Pendant sozusagen, warnte unlängst: „Wir müssen jetzt auf der Straße sein, jetzt protestieren, jetzt kämpfen, jetzt unsere Freiheit verteidigen. Denn wenn wir das nicht tun, werden wir in ein paar Wochen vielleicht keine Möglichkeit mehr dazu haben.” Warschau trennen von Budapest etwas mehr als 500 Kilometer Luftlinie, ideologisch liegen die beiden Hauptstädte jedoch nah beieinander.

Mittlerweile ist der Schnee in Warschau geschmolzen. Der Ausnahmezustand ist zum Alltäglichen geworden: Pawel fährt seine Runden im Taxi, Artur lehrt Schülern Geschichte, Michał und Monika sind wieder in der Werbeagentur tätig. Sie alle schauen machtlos zu, wie Gesetzesentwurf nach Gesetzesentwurf verabschiedet werden, ohne das man dies verhindern könnte. Mittlerweile sind Polens innenpolitische Reformen sogar zum Thema des EU-Parlaments geworden, Vizekommissar Frans Timmermans leitete unlängst ein „Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit” in die Wege. Doch wen interessiert hier schon Europa? Michał und Monika schwenken zum letzten Mal die europäische Miniaturflagge im Warschauer Café. ihr Sohn Henryk sollte diesen Februar eigentlich beginnen, im Kindergarten Englisch zu lernen. Stattdessen sieht der Bildungsauftrag der neuen Regierung jetzt jedoch katholischen Religionsunterricht vor.

Bildquellen: Titelbild: Piotr Drabik unter CC by 2.0, (1) Piotr Drabik unter CC by 2.0, (2) Grzegorz Żukowski CC by 2.0, (3) Grzegorz Żukowski CC by 2.0

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