Wenn der Kunde nicht mehr König ist: Ein Pro und Contra zur Selbstbedienung
Ein Meinungsabtausch von Stephan Brandl und Leonie Habisch
Wieso Selbstbedienung nicht unbedingt ein Rückschritt ist – PRO von Stephan Brandl
Ach ja, der Fortschritt. Er kann schon ein ziemlicher Hund sein, wie der Bayer in seiner Schelmenhaftigkeit kritisch anerkennen würde. Denn er, der Fortschritt, tut Dinge, die keiner erwartet hatte und verändert Umstände, die als unumstößlich galten. Eine solche Veränderung ist zum Beispiel das „SB-Tanken“. Musste man früher auf den Tankwart warten, bis der den Kunden vor einem bedient hatte – und wir alle kennen diese Kunden, die, trotz Schlange bis zum Ausgang, gerne noch ein privates Pläuschchen mit der Kassiererin halten und von ihrer gerade überstandenen Hüft-OP erzählen – muss man heute nur noch warten, bis die Zapfsäule frei ist.
Wenn man in den Urlaub fliegt, kann man schon von zuhause aus einchecken und am nächsten Tag ein bisschen länger schlafen, anstatt um vier Uhr am Flughafen sein zu müssen, um um halb sieben abzuheben. Wir können uns sogar den Sitzplatz selbst aussuchen und bekommen unsere Bordkarte direkt aufs Smartphone. Was gibt es daran auszusetzen?
Selbst ist der Kunde
Auch der „Job“, den wir am Bankautomaten erledigen können, ist doch ein leichter. Zum Beispiel wenn wir eine Überweisung tätigen. Früher war „geschultes Fachpersonal“ dafür nötig. Ich wundere mich irgendwie nicht, dass es diesen Job nicht mehr gibt. Wer will, kann außerdem nach wie vor seinen Überweisungsträger mit der Hand ausfüllen und der Bank in den Briefkasten werfen oder aber ihn einem Berater diktieren und dabei hoffen, dass der nicht allzu oft nachfragt, ob er den Namen richtig geschrieben hat.
Ein weiteres, beliebtes Beispiel ist das IKEA-Regal, das wir selbst zusammenbauen. Sicher, wir müssen dafür Arbeit und Zeit investieren. Aber natürlich sparen wir dadurch auch extrem viel Geld und das Billy-Regal kostet so vermutlich um ein Drittel weniger als der Rundumservice mit Lieferung und Montage. Wir sparen also Geld, weil die Unternehmen Geld sparen. Spricht dagegen wirklich etwas?
Der Soziologe Günter Voss erklärt bei Deutschlandradio Kultur, dass es nach dem Krieg als neuer Wert galt, selbst Entscheidungen treffen zu können. Auch über solch scheinbar unwichtigen Dinge, wie den Einkauf, den man – damals ganz neu – im Supermarkt und nicht mehr im Tante-Emma-Laden erledigen konnte. Diesem Phänomen lag ein gesellschaftlicher Wandel zugrunde, man wollte sich nicht mehr unterordnen. Als Supermarkt-Kunde trifft man am Regal selbst die Entscheidung darüber, was man kaufen möchte und was nicht. Die Beratung durch einen Verkäufer, der ja immer auch im eigenen Interesse handelt und bestimmte Produkte abverkaufen möchte, fällt weg. Die Selbstbedienung hat also eine demokratische Herkunft, die man sich gerne in Erinnerung rufen darf.
Machen wir uns das Leben leichter
„Self Service can also be a synonym for no service“, sagt hingegen der amerikanische Soziologe Craig Lambert bei HuffPost Live zum Thema „Schattenarbeit” – seine Bezeichnung dafür, dass Kunden selbst Aufgaben übernehmen. Für mich ist das trotzdem noch kein Anlass, mir amerikanische Verhältnisse an der Supermarktkasse herbeizusehnen, wo ich warten muss, bis meine Einkäufe in die Tüten gepackt wurden und dafür dann noch Trinkgeld zahlen soll.
Fallen Einstiegsjobs durch den Trend zur Selbstbedienung in Zukunft immer mehr weg? DIW-Chef Karl Brinke erklärt im Interview mit Deutschlandradio Kultur, es gäbe keine Studien, die irgendwo einmal systematisch untersucht hätten, was die ökonomischen Folgen unserer Selbstbedienungs-Kultur sind. „Auch in der Wissenschaft wird akzeptiert, dass es diese Mechanismen gibt, die Unternehmen sparen wollen und der Kunde Leistungen erbringt, die früher zum Service gehört haben“.
Doch es werden nicht nur Jobs eingespart, es werden auch andere ausgebaut. In seinem Buch „Schattenarbeit“ geht Lambert darauf ein, dass sich heute immer mehr Jobs neu bilden, die wir nicht mehr machen wollen. Dazu gehören zum Beispiel die Kinderbetreuung, die wir in Kitas auslagern oder das Aufräumen und Putzen der Wohnung, was in vielen WGs mittlerweile von einer Reinigungskraft gemacht wird. Wir sparen an der einen Stelle, weil die Unternehmen Geld sparen, dafür haben wir mehr Geld an einer anderen Stelle, um uns das Leben angenehmer zu machen. So entwickelt sich die Wirtschaft eben immer weiter.
Vorwärts oder rückwärts?
Nicht nur die Wirtschaft, die Welt als Ganzes entwickelt sich immer weiter. Das kann man entweder bedauern und versuchen, auf alten Konventionen zu beharren und die entsprechenden konservativen Parteien wählen. Oder man kann versuchen, das Beste draus zu machen und sich ein neues Geschäftsmodell zu überlegen, anstatt pausenlos rumzujammern, wie böse diese neue digitale Welt ist. Wer es lieber traditionell bequem mag, dem steht auch heute noch die Möglichkeit offen, einen Montageservice zu bestellen oder die Tankstelle mit Tankwart anzufahren. Gegen Aufpreis, versteht sich. Im Netz können wir können vom T-Shirt bis zum Auto alles so konfigurieren, wie wir es uns vorstellen und wünschen. Mag sein, dass das gleichzeitig bedeutet, dass die Arbeit, die früher andere kreative Köpfe übernommen haben, an uns selbst ausgelagert wird. Wahrscheinlich wird sich aber auch diese Entwicklung einfach irgendwann wieder ändern. Spätestens dann, wenn niemand damit rechnet und unsere Selbstbedienungs-Mentalität als unumstößliches Credo gilt.
Wie uns die Selbstbedienungs-Mentalität vergessen lässt, was Zuvorkommenheit bedeutet – CONTRA von Leonie Habisch
Anfang des Jahres war ich mit meinem Freund für ein langes Wochenende in Prag. An unserem letzten Abend schlenderten wir durch die Straßen, wussten nicht so recht wohin und fanden schließlich ein kleines Restaurant namens „Kitchen Ramen Bar“. Der Name prangte in Form von pastellfarbenen Neon-Röhren über der Tür. Drinnen angekommen, setzten wir uns auf ein durchgesessenes Ledersofa, das vor einer unverputzten Wand stand. Daneben war eine Kollektion an Sesseln und Stehlampen der vergangenen 60 Jahre drapiert. Von der Decke hingen Pflanzen ohne Topf. Der Kellner trug, genau wie sein Kollege, ein schwarzes Cap zum Streifen-Shirt und servierte uns Ingwerbier in Einmachgläsern. Der Laden sah aus wie ein Shop von Urban Outfitters, nur ohne die Klamotten – sehr hip, sehr chic und trotz, oder vielleicht gerade wegen der Vintage-Elemente am Zahn der Zeit.
Als wir gerade im Begriff waren zu gehen, wünschte uns der Kellner in akzentfreiem Englisch einen schönen Abend und hielt uns die Tür auf, als wir rausgingen. Diese altmodische Geste, die zunächst überhaupt nicht zur sonstigen Corporate Identity des Ladens passte, vervollständigte letztendlich dann doch genau die Ironie der Hipster-Atmosphäre. Und zwar mit einer Eleganz, die mir vor Augen führte, was uns heutzutage in Cafés fehlt.
Aufmerksamkeit statt Selbstbedienung
Niemand hält einem mehr die Tür auf. Wir warten beim Betreten des Restaurants auch nicht, bis uns ein Mitarbeiter einen Tisch anbietet. Nein, stattdessen suchen wir uns unseren Platz aus, gehen selbst zur Theke, balancieren zwei Latte Macchiato an den Tisch und machen uns die Tür selbst wieder auf, wenn wir gehen. Schade eigentlich. Auch wenn ich kein Fan von unnötigen Förmlichkeiten bin, so war es doch ein gutes Gefühl, dass jemand zuvorkommend genug ist, mir die Tür aufzumachen. Mit Coffee-To-Go in der einen und einem halb ausgewickelten Schoko-Croissant in der anderen Hand, wissen wir schon gar nicht mehr, wie man „zuvorkommend“ überhaupt schreibt. Wir haben uns daran gewöhnt, alles zum Mitnehmen oder per Selbstbedienung zu bestellen. Klar wissen wir nicht mehr, wie es ist, wenn einem ein Kellner die Tür aufhält – weil in den Cafés und Restaurants, die wir besuchen, kein Mitarbeiter je hinter dem Tresen hervorkommt. Dabei sind es genau diese kleinen Gesten – das Aufhalten der Tür, der Kellner, der ungefragt das Geschirr abräumt und fragt, ob man noch etwas bestellen möchte – die einen Restaurantbesuch ausmachen und die Rechnung am Ende rechtfertigen.
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Bildquelle: Redd Angelo unter CC0-Lizenz