Produktionsbedingungen Mode True Cost

True Cost konfrontiert uns mit der Wahrheit hinter dem Mode-Wahnsinn

Andrew Morgan sieht überraschend jung aus für jemanden, der einen der gesellschaftskritischsten Filme der jüngeren Vergangenheit realisiert hat. Seine dunklen, langen Locken stehen weit vom Kopf ab, der Amerikaner erinnert an einen jungen Rainer Langhans, also jenen revolutionären Mitbegründer der Kommune eins in den Siebzigern.

Via Skype erzählt Morgan ZEITjUNG von dem Tag, der sein Leben veränderte: „Auf einmal sah ich dieses Cover der New York Times. Darauf waren zwei Jungen, die sich Bilder vermisster Arbeiterinnen einer eingestürzten Textil-Fabrik ansahen.“ An diesem Tag beginnt Morgan, sich zu fragen, wo seine Kleidung herkommt, er beginnt, zu realisieren, dass jede seiner Hosen, jedes seiner T-Shirts durch menschliche Hände gegangen ist – und das unter teils furchtbaren Bedingungen.

Was als Gedanke in seinem Kopf begann, ist zum beeindruckenden Dokumentarfilm „ The True Cost“, bei den 68. Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt, geworden, der einen nicht mehr loslässt und nicht weniger als die gesamte Modeindustrie hinterfragt. Morgan und sein Team sprachen mit Arbeiterinnen in Bangladesch, besuchten die Endverbraucher in den westlichen Metropolen und zeichnen das Bild eines kranken Teufelskreises, in dessen unermüdlichem Drehen die Menschen der unersättlichen Gier nach mehr in Deutschland oder den USA zum Opfer fallen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Mehr als 1100 Menschen waren 2013 in Bangladeschs Haupstadt Dhaka beim Einsturz jener Textilfabrik ums Leben gekommen, den das Titelblatt der Times thematisierte, das Morgan so bewegte.

 

Alles für die Individualität

   „Es ist für uns wirklich harte Arbeit, diese Kleidung herzustellen, und ich glaube, die Menschen haben gar keine Ahnung davon, was sie da eigentlich anziehen. Sie kaufen die Sachen und machen sich keine Gedanken. Aber ich finde, an dieser Kleidung klebt unser Blut“, sagt eine Arbeiterin im Film und prägt so eine der Stellen, die einem mit einem faustgroßen Kloß im Kinosessel zurücklassen – und einen unwillkürlich das eigene Leben mit einem gewissen Abstand betrachten lassen. Zu Tausenden geht unsereins auf die Jagd nach trendigen Jeans, seltenen Sneakers und T-Shirts, die ein weiteres Puzzlestück der Outfits jener Generation sein sollen, die sich durch Individualität nicht nur kennzeichnet, sondern deren gesamtes Lebensgefühl auf dem Individuellen fußt. Wo die Mode herkommt, welchen Preis andere Menschen womöglich für die Stücke, die man ab dem Tag des Kaufs innig liebt, bis ein neues Stück sie ersetzt, interessiert nicht. Und das nicht etwa, weil wir eine Generation von grausamen Egomanen sind, sondern einfach deshalb, weil man nicht daran denkt, was Morgan bestätigt. „Die Modeinsudtrie hat Milliarden investiert, um sich Generationen von perfekten Konsumenten heranzuzüchten, die nicht hinterfragen, sondern Anspruch und Stilbewusstsein haben – und bereit sind, dafür richtig viel Geld auszugeben.“

Wie sehr sich die Branche verändert hat, macht Morgan klar, als ich anbringe, dass die Ausbeutung von Arbeitern und die Auslagerung der Produktionsstätten in billige Produktionsländer ja nun wirklich nichts Neues sei: „1960 wurden 90 Prozent der Kleidung der US-Bürger in den Staaten hergestellt, 1990 waren es noch 50 Prozent und heute sind es weniger als zwei Prozent. Das muss man sich mal vorstellen!“ Und er hat recht, das muss man sich vorstellen.

Fast alle unsere Kleidung wurde in Ländern hergestellt, die immer wieder für Skandale wegen menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen sorgen und von denen auch ohne Skandale jeder weiß, dass der Mensch dort nurmehr eine Ressource ist, mit Hilfe derer man die Zielmärkte möglichst billig und schnell bedienen will. Europa konsumiert heute mehr als vier Mal so viel Kleidung wie in den Achtzigern, 80 Milliarden Einzelstücke werden jedes Jahr weltweit gekauft, die Branche ist ein Billionen-Euro-Kosmos – und denkt gar nicht daran, nicht weiter zu wachsen.

 

Wie etwas ändern?

 

„Das Erschütternde ist ja, dass sich nichts verändert“, sagt Morgan ernst. „Das Unglück in Dhaka war das schlimmste in der Geschichte der Modeindustrie. Nun gaukelt man Maßnahmen vor und in wenigen Monaten ist alles wieder genau so schlimm. Weil es nur um Profit geht. Profit, Profit, Profit. Und wir alle sind Teil des Problems.“ Umwelt und Menschen, beide leiden unter dem Konsum-Wahn wie niemals zuvor. „Ich wollte mit meinem Film erreichen, dass man sagt: ‚In welcher Welt will ich leben?‘ und dass man dann etwas ändert. Wenigstens ein kleines bisschen.“ Etwas ändern.

Wovon spricht Morgan? Wie soll man ein gewaltiges, sich fortwährend drehendes Rad ändern? Durch den Kauf teurer Kleidung jedenfalls nicht. „Ich hätte exakt den gleichen Film, exakt den gleichen, auch über die Luxus-Moden-Branche drehen können“, so Morgan. Wie dann? „Ganz einfach“, so der Regisseur, „indem jeder für sich selbst entscheidet, dass etwas weniger mehr ist und bewusster einkauft.“ Er selbst zum Beispiel ist seit einiger Zeit ein großer Fan von Second-Hand-Mode, somit kann er zwar nicht verhindern, wieder etwas zu tragen, dass mit dem Leid Anderer kreiert wurde, wohl aber – jedenfalls im Kleinen -, dass Millionen von Menschen immer weiter in einen Strudel neuer Ausbeutung geraten.

 

„Diese Tausende von armen Seelen haben ihr Leben verloren, weil sich keiner um sie gekümmert hat. Es geht allen nur um den niedrigsten Preis für beste Qualität. So sollte das nicht sein. Jeder trägt Verantwortung für diese Menschen“, wird im Film gesagt. Nicht nur, weil das die absolute Wahrheit ist, sollte sich jeder die Zeit nehmen und sich „The True Cost“ ansehen. Sondern auch, weil es ein Film ist, der einem weniger über das Leid der Welt zeigt, als viel mehr über sich selbst und einen so die Rolle hinterfragen lässt, die einem das teils makabre Drehbuch der Modebranche zugeteilt hat, ohne dass man sich jemals dafür beworben hat. Und genau das, der Anstoß über ein Problem nachzudenken, kann einen Prozess der Veränderung in Gang setzen. „Wenn auch nur in kleinen Schritten“, wie Morgan betont. Es gehe darum, bei sich selbst anzufangen. „Schon das kann so viel verändern.“

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