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Türkei: „Wir wissen nicht, was wir als nächstes zu erwarten haben“

Das Wort „Putsch“ kennen die meisten von uns wohl nur noch vage aus dem Geschichtsunterricht. Aus Kapiteln über Hitler, in denen von Reichtagsbrand und gewaltsamer Machtübernahme die Rede war. Kapitel über Zeiten, die uns endlos weit weg erschienen und mit unserer Lebenswirklichkeit und fortgeschrittenen Zeit absolut nichts zu tun hatten. Oder?

Die Geschehnisse in letzter Zeit belehren uns eines Besseren. Was bis jetzt verstaubte Theorie war, wurde in der Nacht von Freitag auf Samstag gegen 22 Uhr in Ankara Realität, als Teile der türkischen Armee das Kriegsrecht ausriefen und eine Ausgangssperre verhängten. Alles mit dem Ziel, „die verfassungsmäßige Ordnung, Demokratie, Menschenrechte und Freiheiten“ wiederherzustellen, wie es in einer Erklärung hieß, die im Fernsehsender TRT verlesen wurde. Die Putschisten positionierten sich in Istanbul und Ankara und besetzten unter anderem die Hauptquartiere der Armee, des Geheimdienstes und der Polizei und für kurze Zeit auch den staatlichen Rundfunk. Das Parlamentsgebäude wurde beschossen, während sich dort Abgeordnete aufhielten. Soziale Netzwerke wir Facebook, Twitter und YouTube wurden zeitweise gesperrt.

 

Sind wir jetzt im Krieg?

 

Auf unseren Handys wichen Katzenvideos und Pokémon Go-Diskussionen plötzlich den Meldungen über ausgerufenes Kriegsrecht, Kampfflugzeuge, Panzer auf den Straßen, brennende Autos, Kämpfe zwischen Soldaten und Demonstranten und Ausgangssperren. Irgendwo zwischen Fakten, News-Tickern und Kommentar-Schlachten auf Facebook drängt sich doch die Frage auf: Sind wir jetzt im Krieg?

Der Putsch-Versuch ist letztendlich nach wenigen Stunden gescheitert und trotzdem stellt sich bei vielen Türken wohl noch lange kein Gefühl der Erleichterung ein. Die Regierung unter Präsident Erdoğan nahm nach Angaben der Zeit bereits am Samstag Tausende Soldaten fest und setzte bisher 2.700 Richter ab – ein knappes Fünftel aller Richter in der Türkei. Ganz ungelegen schien ihm der Putschversuch nicht zu kommen, den er als „Geschenk Gottes“ bezeichnete und der es ihm ermöglichte, nun endlich das Militär zu säubern. „Über die Einführung der Todesstrafe könne im Parlament gesprochen werden“, sagte Erdogan laut heute.de vor seinen Anhängern. Es sei auch nicht nötig, sich dafür von irgendwoher eine Erlaubnis einzuholen. Beispielsweise von der EU?

Solche Nachrichten und Äußerungen machen Angst – und sind für uns eigentlich unvorstellbar. So unvorstellbar, wie vieles, was in der Türkei zurzeit so vor sich geht. Von der restlichen Welt wollen wir jetzt gar nicht reden. Für viele steht fest: Das wird es endgültig gewesen sein mit Demokratie, Gewaltenteilung und einer Opposition. Um einen Eindruck von den Vorgängen in Istanbul, Ankara und dem Rest der Türkei zu gewinnen, haben wir mit Yeliz* gesprochen, einer jungen Türkin, die in Istanbul als Yoga-Lehrerin arbeitet und gegenüber ZEITjUNG von ihren Erfahrungen aus der Nacht des Putschversuchs, der Stimmung in der Türkei und ihren Wünschen für die Zukunft berichtet.

 

„Jeder hat nervös auf seinem Smartphone gescrollt“

 

„Es war ein gewöhnlicher Freitagabend für mich“, erzählt uns Yeliz. „Ich habe das Yoga-Studio abgeschlossen, mich mit Freunden in einem Café getroffen. Dann verbreiteten sich die Nachrichten [über den Putsch; Anm.d.Red.] so schnell, dass wir sie gar nicht richtig verstanden und ernst genommen haben. Ich wollte meine Eltern besuchen, habe also das Café verlassen, um den Bus zu nehmen. Die Leute im Bus waren nervös und versuchten, nachzuvollziehen, was passiert war. Es hieß, die Brücke zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil von Istanbul sei vom Militär gesperrt worden. Also bin ich ausgestiegen, um zu Fuß weiterzugehen und sah junge Leute, die rannten und schrien. Die Situation machte keinen Sinn, man weiß, das gerade etwas passiert, aber man kann einfach nicht verstehen, was. Ich bin weiter gegangen, habe der panischen Menge zugeschaut, aber auch Leute gesehen, die immer noch in den Bars getrunken haben. Jeder hat nervös auf seinem Smartphone gescrollt. Als ich zuhause angekommen bin, saßen meine Eltern schon vor dem Fernseher. Mein Bruder war noch mit Freunden unterwegs und hat versucht, irgendwie nach Hause zu kommen. Ich habe dann meinen Freunden in Ankara geschrieben, die ja unter viel größerer Bedrohung waren. Dann ist das mit dem Putsch passiert – zumindest für eine Weile – und sie sagten, dass wir ab jetzt nicht mehr raus auf die Straße dürfen. Meine Eltern waren schon mal in den 1980ern in dieser Situation, als sie noch an der Uni waren. Ihre Geschichten von damals sind für mich jetzt Realität geworden. Ich konnte es immer noch nicht richtig verstehen, konnte nur sehen und hören, was im Fernsehen erzählt wurde und schrieb ununterbrochen mit meinen Kollegen und Freunden. Wieder einmal fühle ich mich verloren. In unseren Leben haben wir so viele Dinge so schnell passieren gesehen. Bomben in großen Städten, Terror, Angst, die Gezi-Proteste und vieles mehr. Jetzt ist das passiert, und wir wissen nicht, was wir als nächstes zu erwarten haben“.

 

„Wir leben fast mein halbes Leben lang unter diesem Druck“

 

„Nach all den Attentaten, die in letzter Zeit in der Türkei geschehen sind, habe ich angefangen zu begreifen, dass diese Anschläge die ganze Zeit schon passieren. In den östlichen Teilen der Türkei, was jedes Mal vor uns versteckt wurde. Jetzt kommt es mir vor, als würde alles, was jetzt passiert, denen leichter fallen. Große Städte anzugreifen demonstriert natürlich viel mehr Macht. Seit der Attacke auf dem Taksim-Platz fühle ich mich nicht mehr sicher, für eine Weile konnte ich nicht mehr aus dem Bett aufstehen. Dann begriff ich, dass das Leben so nicht weitergehen kann. Wir leben seit mehr als zehn Jahren unter diesem Druck, fast mein halbes Leben lang. Ich glaube, es wird noch viel offensichtlicher, wenn man in großen Städten wohnt, zur Universität geht oder oft belebte Plätze besucht. Die Niedergeschlagenheit und die Ängstlichkeit kommen jeden Moment wieder hoch“.

 

 

„Vielfalt ist hier zur Nebensache geworden“

 

Auf unsere Frage hin, wie sie zur Politik Erdoğans stehe, antwortet Yeliz ausweichend. „Es gibt eine sehr große Bevölkerung in der Türkei und die Menschen sind so vielschichtig. Die Meinungen unterscheiden sich also sehr. Eigentlich macht die Vielfalt ja das Leben aus, aber diese Vielfalt ist hier zur Nebensache geworden, und führt mehr zum Zusammenbruch und der Teilung der Menschen. Zurzeit kommt es mir so vor, als würden die Unterschiede zwischen all den Kulturen, Glaubensrichtungen und Meinungen über Politik einen riesigen Konflikt erzeugen, der immer größer wird.

 

Alles inszeniert?

 

Viele Leute behaupten, der Putschversuch sei von Erdoğan selbst inszeniert worden. Zu kurz, zu unvorbereitet, zu schlecht durchgeführt sei er gewesen. Zu sehr spiele er Erdoğan in die Karten, der nur wenige Stunden später schon Listen mit Tausenden von Namen von Richtern und Soldaten parat hatte und nun – nach eigener Aussage – das Militär endlich „säubern“ könne. Wie sieht man das in der Türkei? War am Ende tatsächlich alles nur inszeniert? „Naja“, sagt Yeliz,  „niemand weiß, wie es wirklich ist, nicht einmal meine Eltern. Etwas ist passiert, ob es nun Inszenierung oder Realität war. Es ändert nichts an der Situation, in der wir uns jetzt befinden. Wenn es eine geplante Sache von Erdoğan war, hat es funktioniert. Wenn es ein wirklicher Versuch war, hat es auch funktioniert. Wir haben ein Sprichwort, das in etwa von einem „two sided shitty stick“ handelt. So empfinde ich das gerade“.

Wie geht es jetzt weiter?

 

„Die Zukunft ist für mich ein großes Fragezeichen. Ich verstehe immer noch nicht, was am Wochenende in den Straßen passiert ist. Die ganze Zeit den Gebetsruf zu hören, Schreie, Kämpfe, Hupen, die ganze Nacht – das ist beängstigend. Ich denke, das war nur die erste Runde. Da wird noch mehr kommen“.

 

„Ich hoffe immer noch, dass wir etwas verändern können“

 

Zum Schluss haben wir Yeliz gefragt, was sie sich für die Zukunft wünscht und was sich ihrer Meinung nach ändern sollte. „Darüber habe ich lange nachgedacht. Nichts scheint mehr in Ordnung zu sein. Ich hoffe immer noch, dass wir etwas verändern können – durch kleine Veränderungen in unserem Leben, durch die Entscheidung, stabiler und zukunftsfähiger zu sein. Auf unsere Dorfbewohner Acht geben, die lokale Produktion unterstützen, ein einfacheres Leben führen und Gemeinden auf Basis von Vertrauen und Frieden gründen – das ist mein Wunsch für die Zukunft. Diese Machtkämpfe haben vor allem auf die neue Generation große Auswirkungen und das tut mir Leid für sie. Ich finde, wir brauchen mehr Respekt füreinander, Akzeptanz und Anpassungsfähigkeit. Die Kämpfe und Streitereien, nur um die führende Nation zu werden, bringen uns weder Glück, noch Frieden, noch Gleichberechtigung.“

 

*Yeliz heißt eigentlich anders; um sie zu schützen, haben wir ihren Namen geändert. Ihre Geschichte aber ist echt.

 

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Bildquelle: Alexis Brown unter CC 0 LizenzBildquelle: Julius Cruickshank unter CC BY 2.0