Der Januar ist der Montag des Jahres
Überall um sie herum steigen Raketen in die Luft, blitzen blau, rot und weiß auf. Gejohle, Sektglasgeklimper, fasziniertes in den Himmel blicken: „Prost, Neujahr!“ Sie steht in der Ecke auf dem Balkon. Leise laufen ihr Tränen die Wangen herunter. In dunklen Gedanken versunken, starrt sie in den bunten, blitzenden Himmel.
Zum Jahreswechsel werden die vergangenen zwölf Monate knallhart resümiert und analysiert. Jeder peinliche, traurige, enttäuschende Moment kriegt sein Fett weg – gnadenlos. Stimmt am Ende die Realität nicht so wirklich mit den eigenen Erwartungen und Wünschen überein, kann das schon mal aufs Gemüt schlagen. Und dann um Punkt 12: zack, bumm, fertig. Neuanfang. Man wird in einer Jahreszeit, die eher von tristen und kalten Tagen dominiert wird, genötigt, sich mit einem künstlich erzwungenen Schnitt auseinanderzusetzten. Das geht schnell mal – wie die Rakete vom Nachbarn – nach hinten los. „Und was sind deine Vorsätze fürs neue Jahr?“ Ehm, keine?! Können wir nicht einfach so weiter machen wie bisher? Muss nach zwölf Monaten zwangsläufig alles anders, aufregender werden? Muss ich ein besseres Selbst werden? Ich glaube nicht.
Hustle, hustlin‘ hustlin‘, Everyday I’m hustlin‘
Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester ist schon ziemlich crazy. Vor ein paar Stunden hat man grade noch auf der Weihnachtsfeier des Nebenjobs abgezappelt und sich literweise den prickelnden Tropfen die Kehle runterlaufen lassen, natürlich auf Kosten der Firma. Jetzt stopft man noch hektisch ein paar Klamotten (und ganz wichtig: die hart erkämpften Weihnachtsgeschenke) in die Tasche, flitzt in Windeseile zum Fernbus und ab nach Hause zum besinnlichen Weihnachtsfest. Bis zum Neujahr gibt’s dann Familie, alte Freunde und Bekannte in hundertfach überhöhter Dosis, emotionale Breakdowns sind die Nebenwirkung. Man trifft alte Liebeleien, fragt sich, was mit der Neuen eigentlich passiert ist. Sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, ist ja schließlich das Fest der Liebe und der Abend der Neujahrsküsse, ne?! Aber wer ganz ehrlich zu sich ist, weiß schon jetzt: So ein neues Jahr ist kein Zaubertrick, der hex-hex alles komplett verändert.
Sie weiß das auch, das Mädchen mit den leisen Tränen. Auch die letzten Neujahre hatten so viel Potential und am Ende so wenig vorzuweisen – glaubt sie jedenfalls. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es vielleicht nicht ganz so verwunderlich, dass in meinem Bekanntenkreis plötzlich die Neujahrsdepression um sich gegriffen hat. Unsere Welt der Superlative, der Selbstoptimierung gaukelt uns vor, alles Bisherige toppen zu müssen. Geiler Job, cooler Boy oder cooles Girl, fetter Urlaub. Klar, dass da Druck entsteht, dass man ins Grübeln kommt, vor allem, wenn man entschleunigt dank der Feiertage unaufhaltsam ins nächste Jahr schlittert. Und dann ist er da, der Montag des Jahres, der Januar. Es geht wieder von vorne los, alles auf Anfang. So als würde man vor einem riesigen, unbekannten Berg stehen und nicht sehen, was dahinter kommt. Aufregend und beängstigend zugleich. Alles kann, aber denk immer dran: nichts muss.
Biochemie, du Arsch!
Kennste auch? Keine Bange, dein junges, gesundes Gehirn rutscht nicht gleich in die psychologische Auffälligkeit ab, wenn ein paar Tage mal der Blues ausgebrochen ist. Biochemisch gesehen gibt’s da eine ganz einfache Erklärung. Auf unserer Netzhaut befindet sich neben Photorezeptoren auch das Photopigment Melanopsin. Dieses reagiert auf weiß-kaltes Licht, also Blaulicht, und ist mit unserer inneren Uhr verbunden. Sind die Tage kurz, können wir weniger Blaulicht absorbieren, werden müder und antriebsloser. Die Zirbeldrüse im Zwischenhirn schüttet daraufhin vermehrt das Schlafhormon Melatonin aus, das unseren Schlaf-Wach-Rhythmus reguliert. Wir fühlen uns schlapper und müder, gedrückte Stimmung inklusive. Gleichzeitig wird weniger Serotonin ausgeschüttet, das stimmungsaufhellend wirkt. Zum Vergleich: An einem normalen, wolkenfreien Tag herrschen 100.000 Lux (Einheit der Beleuchtungsstärke), an grauen Wintertagen eher um die 7.000; Lampenlicht erreicht maximal 500 Lux, erklärt der Psychiater und Schlafforscher Dr. Dieter Kunz im Gespräch mit dem Spiegel. Wer akut was dagegen tun will, der sollte sich laut Kunz eine Tageslichtlampe mit mindestens 10.000 Lux anschaffen und sich täglich eine halbe Stunde vor dem Gerät gönnen. Eigentlich ziemlich easy.
Erleuchtung to go
Diesen Trick 17 haben sich auch die Schweden zunutze gemacht. Die Selbstmordrate liegt in skandinavischen Ländern besonders hoch. Ein Faktor ist sicherlich noch weniger Tageslicht in den Wintermonaten. Endlose Nächte, die den Depressionszähler in schwindelerregende Höhen treiben. In Umeå, 500 Kilometer nördlich von Stockholm – und wir erinnern uns: je nördlicher, desto finsterer – wurden 2012 die Bushaltestellen mit großen Tageslichtlampen ausgestattet, sodass der Fahrgast ganz locker lässig seine Portion Lux beim Warten in sich aufsaugen kann. Einziges Problem: Wer stellt sich bei bis zu minus 30 Grad mindestens eine halbe Stunde lang an eine Bushaltestelle? Tja, nur die Harten kommen in den Lux-Garten.
Oder man lässt sich einfach auf das neue Jahr ein. Gibt diesem ganzen „Neujahr = Neuanfang“-Gequatsche nicht so viel Raum. Geht bei dem kleinsten Sonnenstrahl nach draußen und saugt jeden Funken Lux in sich auf. Schmiedet Pläne, weil das ja doch irgendwie Spaß macht, auch, wenn nicht immer alles klappt. So wie die Internet-Meute: Vogelwild nimmt die derzeit schon mal an den Großevents des Jahres auf Facebook teil. Festival im Sommer? Dabei. Frühlingsflohmarkt im April? Dabei. Weinfest in der Heimat? Eh klar. Sich schon mal auf die Highlights des Jahres freuen: Auch eine Art, dem Winterblues zu trotzen.
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Bildquelle: Mity Ku unter CC BY-SA 2.0