Minimalismus-Hype: Weniger ist mehr? Bullshit!
Von Judith Strieder
Verzicht sei so hip wie nie, schreibt die FAZ. Aber was heißt denn eigentlich minimalistisch zu leben? Warum stehen wir so darauf? Woher kommt der Hype? Was ist an weniger (haben) vielleicht ernsthaft mehr „Glück“? Woher kommt die Sehnsucht sich auf das, was man wirklich braucht, zu reduzieren? Warum brauchen wir die Bezeichnung des Minimalismus und lebten nicht die Generationen vor uns bereits mit alternativen Lebensformen etwas Vergleichbares?
Immer mehr Menschen entscheiden sich ganz bewusst dafür wenig zu besitzen und minimalistisch zu leben. Und dahinter steckt ja auch ein wirklich lobenswerter Gedanke. Solange die Beweggründe dazu irgendwie mehr als leere Worte sind. Denn einen Schritt weiter gedacht scheint Minimalismus als anhaltende umweltbewusste Lebensform äußerst sinnvoll, sagt Silke Wedel: „Wär‘ schön, wenn es auch nachhaltig umfassender wäre und sich in anderen Bereichen noch ausprägt“. Tausendfach findet man Dokus, Tutorials, Texte und Bücher im Internet, die erklären, wie man minimalistisch lebt und wie die “Regeln“ lauten.
Was ist Luxus?
Bisher bedeutete Luxus in unserer Gesellschaft sich etwas leisten zu können. Autos, Häuser, Schmuck, Kleidungsstücke, Statussymbole, die es teuer zu kaufen gibt. Unser Weg ging nach vorne, nach oben, das Streben nach mehr. Inzwischen scheint der Begriff Luxus sich gewandelt zu haben: Zeit, Freiheit, Platz in der eigenen Wohnung sowie sich Raum schaffen und Luft zum Atmen. Weniger zu haben!
Silke Wedel, Dipl. Psychologin, ist aus Deutschland nach Afrika ausgewandert und hält Minimalismus im Moment – solange er nicht länger bleibt – für einen westlichen Hype. Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt, als wenig zu haben, streben es an mehr zu besitzen: „Wenn du die Möglichkeit hast und könntest ja viel mehr haben, als du dir im Minimalismus jetzt zulegst oder dich mit dem Nötigsten zufrieden gibst, kannst du ja irgendwie noch stolz drauf sein und ich glaube, dass ganz viele Leute, die minimalistisch oder auf dem Existenzminimum oder sonst wo leben müssen, die wären froh, wenn sie das nicht hätten“.
Aber vielleicht steckt hinter dem Minimalismus doch mehr und das vermeintliche Ende unserer Suche nach dem Glück: „Vielleicht ist es auch so was, wie fest zu stellen, dass man durch Konsum nicht glücklich wird“ – „Es geht darum eine Veränderung anzustreben und zu schauen, ob man damit glücklicher ist“, sagt Wedel.
Im Minimalismus geht’s weit mehr als um Besitz
Auf die Gesellschaft bezogen betrachtet Soziologe Ingmar Mundt das Thema als umfassendes Phänomen: „Ich glaube, es hat total unterschiedliche Gründe und Ansätze: Einmal kann man das schon erklären mit einer Art von Wertewandel, den es in Generationen gibt“. Unsere Generation ist nämlich nicht mehr besonders scharf darauf sich teure Autos und Häuser zuzulegen, sondern investiert in Reisen, Abenteuer und Erlebnisse. An dieser Stelle lässt sich Minimalismus mehr als Konsumverschiebung als Konsumreduktion betrachten.
„Es geht auch ein bisschen ins Esoterische um die Dinge dann ganz klar und ganz neu zu sehen. (…) Es hat auch ein totales Komplexitätsreduzierungsmerkmal in sich. Wenn man das am Beispiel Auto nimmt: Wenn man ein Auto hat, dann kommen so viele andere Entscheidungen, die man dazu treffen muss damit, Versicherung, TÜV, Werkstatt, Benzinverbrauch (…) und wenn man das durch alle möglichen Lebensphasen hindurch zieht, (…) dass man da sein Leben auch vereinfachen kann, wenn man aus seinem Leben diese Komplexität nimmt. Und diese Suche nach Resonanz, dieses typisch menschliche, eine Antwort zu bekommen auf die Frage danach, wer man ist“.
Wissenschaftlich gibt es bisher keine Erklärung dafür, warum sich von Dingen trennen so großartig, so befreiend anfühlen kann. Psychologisch betrachtet mag jedoch die Unordnung in der eigenen Wohnung eine gewisse Wirkung auf die Unordnung im übertragenden Sinne im Herzen und Kopf haben. Und doch schwingt auch hier der bitterböse Beigeschmack der Idee keiner inneren Überzeugung, sondern vielmehr einer modischen Lebensform mit: „Bei vielen ist es auch eben mehr der Glaube minimalistisch zu sein (…) wie bei jedem Hype ist es eben auch so, dass die wenigsten ihn wirklich leben“, stellt Mundt fest.
Magic-Cleaning statt Frühjahrsputz
Die Japanerin Marie Kondo ist mit ihren Büchern über ihre lebensverändernde „Magic Cleaning“-Aufräummethode bekannt geworden. Sie ist eine sogenannte Ordnungsberaterin und inzwischen damit zur Bestsellerautorin geworden. Und zwar weltweit. Ihre Bücher wurden in 27 Sprachen übersetzt und ihr Nachname in den englischen Duden aufgenommen. Kondo bedeutet so viel wie einen Schrank aufräumen.
Kondo betrachtet unser Thema von der esoterischen Seite. Entrümpele deine Wohnung und dein Geist wird das Glück finden. Nimm jeden Gegenstand, den du besitzt, kategorisch nach Themen sortiert (erst die Kleidung, dann die Bücher usw.) einzeln in die Hand und fühle, ob dieser noch Glück auf dich sprüht. Falls ja, behalte ihn. Falls nein, verbanne ihn aus deiner Wohnung. Du wirst ausschließlich mit Gegenständen leben, die du liebst, und dein Glück wird kommen. Schreib sie in einem ihrer Bücher – ob das Absurdität oder clevere Vermarktung ist sei dahin gestellt.
Doch offensichtlich ist an dieser Magie was Wahres dran. Kondos Buch ist nicht nur erfolgreich, sondern scheint zu wirken. Menschen, besonders Frauen, berichten nachdem sie die KonMarie-Methode angewandt haben, von persönlichem und beruflichem Glück.
Minimalismus als Antwort auf die Frage nach dem Glück?!
An dieser Stelle fällt auf, es geht vielleicht also doch wieder einmal darum etwas zu konsumieren und zu finden, wenn man so will, nämlich das Glück. Und zwar scheint es, als gäbe es entweder immer noch Menschen, die versuchen sich Glück durch Geld zu kaufen oder diese, die versuchen sich Glück durch den (mode-)bewussten Verzicht zu schaffen. Man könnte wagen zu behaupten, dass unser Besitz verdammt noch mal nichts mit unserem Glück zu tun hat.
Minimalismus ist eine Definitionsfrage, ja. Aber auch diese ist nicht völlig frei interpretierbar. Zweifelsohne steht fest, dass sich Minimalismus nicht darüber definiert statt 150 gebundenen Büchern dieselbe Anzahl online auf einem eBook zu besitzen und dass zum Minimalismus weit mehr, als dem Frühjahrsputz gleichzusetzen, seine Wohnung zu entrümpeln und sich deshalb frei und umweltbewusst und vielleicht etwas nachhaltiger lebend zu fühlen, gehört.
Positiv oder hoffnungslos?
Aber auch, dass unsere Suche nach dem Glück vielleicht schon aufhört oder gerade erst anfängt, wenn wir uns Gedanken darüber machen, was wir wirklich brauchen und haben und worauf wir verzichten wollen. Marie Kondo: „The best way to find out what we really need is to find out what we don’t“. Es muss eben doch immer noch jeder für sich selbst klären wie viel und was einen erfüllt und welche Lebensform die richtige ist. Kurzfristig oder langfristig. Nachhaltig oder kurzweilig. Modisch oder zeitlos. Letztendlich scheint dieses Fazit so positiv wie hoffnungslos, weil es sicher nicht weltbewegend ist, aber nichtsdestotrotz ein wenig erfüllend, dass jeder seinen Platz und ein wenig auch sein Glück schon im Haben oder Nicht-Haben zu finden vermag.
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Bildquelle: Matthew Kane/unsplash.com