Peinlich Fremdschämen Spaß Mut Individualität

Wie, peinlich? Schluss mit dem ständigen Schämen!

Meine Freundin und ich werfen uns einen vielsagenden Blick zu, während die Franzosen, die wir hier am Pazifischen Ozean kennengelernt haben, zu prusten beginnen. Seit Stunden schmettern die Ortsbewohner einen Hit nach dem anderen. Mal mit mehr Talent, mal mit mehr, nennen wir es, Entertainerqualitäten. Und mal wieder lag der Singende 2 ½ Halbtöne unter dem Wunschton. Willkommen beim Karaoke, dem Shit auf den Philippinen, Must-Have bei jedem Geburtstag und die wahrscheinlich beliebteste Freizeitbeschäftigung der Bewohner dieses Paradieses. Doch selbst wenn nur jeder dritte Ton passt – die Einheimischen haben ihren Spaß beim Singen. Wir hingegen, WesteuropäerInnen, genug Geld um zu reisen, die Freiheit zu studieren, was wir wollen, scheinbar alle Zeit der Welt, scheuen das Mikro wie der Teufel das Weihwasser. Weil, und das ist schon des Pudels Kern, es peinlich ist, die Blamage vermeintlich vorprogrammiert. Dabei sieht dieses hemmungslose Singen eigentlich nach viel Spaß aus.

 

Pupsen, vor anderen essen, andere Menschen generell – was uns alles peinlich sein kann

 

Die Schamesröte ins Gesicht treibt uns eine ganze Menge. Wer Lust hat, sich mal wieder mit der Skurrilität der Menschheit zu beschäftigen, googelt und lässt sich in Foren inspirieren. Ja, peinlich, das ist pupsen, sich in der Öffentlichkeit die Nase putzen, vor anderen zu essen, Väter – mir scheint, als wäre menschlich zu sein ein einziger Failure. Seltsam, dass wir eine Digestion, eine Nase, einen Erzeuger haben. Ich schaue auf das Datum der Einträge. Vier Jahre sind sie her. Ich hoffe, die Verfassenden sind bis jetzt nicht an ihren Peinlichkeiten gestorben und haben mit ihrem Körper irgendwie Frieden geschlossen. Ich meine, bei #Yolo kann so ein Furz einem schon mal entfleuchen.

Theoretisch ist alles, mit dem wir aus der Masse herausstechen könnten, gleichzeitig ein Peinlichkeitsmagnet. Also trauen wir uns nicht zu laut zu lachen. Könnte ja irgendwie schrill klingen. Oder zu laut zu stöhnen, obwohl im Idealfall es den oder die Beteiligte nicht stören sollte, dass uns der Sex, den wir da gerade gemeinsam haben, so viel Spaß macht, dass wir die Welt um uns vergessen. Und sich schon mal im Restaurant beschwert? Natürlich nicht, dann würde der Kellner ja wissen, dass wir mit über 20 Jahren und zahlreichen Gourmetmomenten einen Standard auch beim Thema Essen haben. Skandalös!

 

Fremdschämen – das Wort des Jahres

 

Doch nicht nur wir sollten am besten ins unauffällige Mittelmaß passen, sondern auch unsere Mitmenschen. Kein Wunder, dass 2009 das Wort fremdschämen in den Duden aufgenommen wurde und 2010 von den Österreichern zum Wort des Jahres gekürt. Was ist da los in unserer sonst so toleranten Gesellschaft? Eigentlich ist uns Gen-Ylern klar, dass Menschen nicht perfekt sind – und das zu wollen wäre auch mehr eine Dystopie der Langeweile als tatsächliche Utopie. Aber anscheinend hat  eben alles ein Ende, auch die Toleranz, und deswegen kann man sich auch mal für die schlechte Anmache, den seltsamen Tanzstil, die vermeintlichen Unzulänglichkeiten der anderen mitschämen. Isso.

Natürlich haben Scham und dieses oh-wie-peinlich-Gefühl ihre Berechtigung. Ohne Frage ist es awkward, wenn es einen vor dem Augen des Schwarms auf die Nase legt. Aber darüber sollte man, mit etwas Abstand betrachtet, lachen können. Das sind die kleinen Missgeschicke im Alltag, die ständig und jedem passieren. Anders sieht es aus, wenn wir gemein zu unseren Mitmenschen waren. Dann sollten wir uns tatsächlich schämen und im besten Fall entschuldigen.

Aber findet ihr es nicht auch schade, dass es so ein Problem für uns ist, menschlich zu sein? Dass wir uns unseren Spaß und unsere Wünsche ignorieren, weil es die falsche Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen auf sich ziehen könnte? Dass wir den Mut anderer mit rollenden Augen, verschämtes Gekicher, Missachtung strafen? Ist es nicht heimlich bewundernswert, wenn Menschen zu ihren Fehlern stehen und sich trotzdem nicht die Laune vermiesen lassen?

 

Wir sind kein Einheitsbrei.

 

Der französische Existentialist Sartre schreibt in Sein und das Nichts, dass unsere Scham daher rührt, dass wir nicht akzeptieren können, wie andere uns sehen, dass wir Menschen sowohl unser Selbst- als auch unser Fremdbild zugleich sind. Und wir fürchten, dass wir in diesem Fremdbild eben doch nicht perfekt sind, während wir in unserem Kopf (auch wenn das natürlich niemals in Frage kommt) bei The Voice abräumen könnten, unser Fürze wie Einhornzucker riechen, wir Halbgötter und Superheldinnen sind. Eben nur in unserem Kopf und das auch nur ganz, ganz, ganz heimlich.

Und dieser Selbstzwang, wie es der Soziologe Norbert Elias nennt, reguliert, limitiert uns. Wir meinen, andere Menschen würden etwas an uns bemerken, was zwar da ist, aber wir ungern mit ihnen teilen. Und vor lauter Angst verheimlichen wir, dass wir menschlich sind, verheimlichen unsere Meinung, unseren Spaß, unseren Körper. All das, was uns auszeichnet, verstecken wir, um uns nicht zu blamieren. Doch wir sollten nicht im farblosen, geschmacksfreien Einheitsbrei der Gesellschaft verschwinden, uns seltsame Nischen wie Hipster und Emo suchen, um mit unseren Eigenheiten nicht aufzufallen. Wir dürfen auch ruhig Fehler begehen, uns finden und verlieren, zu laut sein, das Leben genießen und auf die Meinung anderer scheißen, schnarchen, pupsen, Karaoke singen, mutig mit uns selbst sein. Bevor wir Dinge gar nicht tun, dürfen wir uns doch trauen, sie einfach auszuprobieren – Fehler hin oder her.

Am Ende habe ich dann doch gesungen. Ja, ja, Urlaubsfeeling, ein paar San Miguel, Hitzeschlag – perfekte Ausreden. Aber wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich einfach Lust singen, obwohl ich es nicht kann. Einer der Franzosen hat ein Video gemacht, ich glaube, es ist ziemlich bescheuert, könnte vielleicht mit wenig Pech ein peinlicher YouTube-Hit werden und den Titel tragen „German girl sings karaoke: horrible but funny“. Aber eigentlich ist das auch egal, meine Freundin meinte, es war mutig und wir hatten unseren Spaß, gestört hat es im bunten, facettenreichen Musikgeschaller eh nicht. Und das ist ja irgendwie die Hauptsache.

 

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Bildquelle: Felipe Alonso über CC2.0-Lizenz