Wie Handy-Videos die Berichterstattung ändern und uns beeinflussen
Das erste Amateurvideo in den Nachrichten, an das ich mich erinnern kann, zeigte den Tsunami im indischen Ozean. Das war 2004, kurz nach Weihnachten und die Aufnahmen haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Bilder waren unscharf und verwackelt, oft hat man nur den Boden gesehen, weil die Kamera noch an war, als ihr Besitzer schon längst losgerannt ist. Aber genau das war es, was diese Videos auf grausame Weise so eindrucksvoll gemacht hat. Statt nur von dem Erdbeben und den Tsunamis an den Küsten in den Nachrichten zu hören, war man auf einmal live dabei und sah Bilder, die kein Reporter jemals hätte aufzeichnen können.
Bilder vom Strand, an dem sich das Wasser meterweit zurückzieht. Bilder von den gigantischen Wellen, die Häuser und Palmen mit sich reißen und Bilder von Menschen, die verzweifelt versuchen, sich zu retten und trotzdem mitgerissen werden. Man hört Menschen kreischen und um ihr Leben schreien, was vielleicht noch schlimmer ist, als jedes Bild.
Das Internet, die Möglichkeiten, das es uns bietet und der damit einhergehende sogenannte Bürgerjournalismus haben die Berichterstattung völlig auf den Kopf gestellt. Jeder kann am politischen und gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen und jeder kann durch Videos und Bilder seinen Teil dazu beitragen.
Amateurvideos als ungeschönte Liveberichterstattung
Diese Videos verbreiten sich rasend schnell im Netz und sind somit schneller als jede Tageszeitung oder Nachrichtensendung. Innerhalb von Minuten sind wir informiert über Pöbeleien vor Flüchtlingsheimen und Zugunglücke, und zwar nicht nur mit Texten und Bildern, sondern eben mit Videos, die uns einen viel intensiveren Einblick verschaffen als jeder noch so gut formulierte Artikel. Denn Amateurvideos – wie das der pöbelnden Masse vor einem Flüchtlingsheim in Clausnitz vom letzten Freitag – sind nicht geschnitten, und nicht geschönt, sie sind von keiner Redaktion professionell überarbeitet worden und sie verschaffen uns den Eindruck, mittendrin zu stehen und dabei zu sein, unter diesen Idioten, die den Nazis der 30er Jahre alle Ehre machen. Wir sehen durch die Augen eines direkt Beteiligten und nicht durch die Kameralinse von Journalisten, denen immer mehr Leute keine unabhängige und wahrheitsgemäße Berichterstattung mehr zutrauen.
Der Bürgerjournalismus mit seinen Amateurvideos und -bildern kann Sachverhalte aufdecken, die so vielleicht niemals in den Medien Platz gefunden hätten. Wie etwa die Brutalität der Polizei in Ferguson und anderen amerikanischen Städten, der man auf zahlreichen Videos dabei zusehen kann, wie sie wie von Sinnen auf Männer eindrischt und eintritt, die schon am Boden liegen. Wäre ein Kamerateam vor Ort gewesen, hätte es diese Bilder mit Sicherheit nicht gegeben.
Aber auch in Situationen, in denen es der Presse schlicht nicht möglich ist, vor Ort zu sein, können Amateurfilmer für Aufklärung sorgen. Wie im syrischen Bürgerkrieg, wo die Einreise für Journalisten nicht nur extrem gefährlich, sondern auch verboten ist. „Überall in Syrien dokumentieren Bürger als Journalisten die Gewalt. Das sind ganz normale Menschen, Ingenieure, Handwerker oder Studenten, die die täglichen Gräuel abbilden und der Weltöffentlichkeit über soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder auch YouTube-Videos mitteilen“, berichtete die Welt 2012, als der Bürgerkrieg schon ein Jahr lang andauerte.
„Die klassischen Medien sind hier nicht mehr der Torwächter, der entscheidet, was die Öffentlichkeit erfahren soll und was nicht. Vielmehr kann hier jeder selbst zum Reporter werden und zu dem, der ein Ereignis öffentlich macht. Ohne jegliche zeitliche Verzögerung und über soziale Netzwerke, mit denen binnen kürzester Zeit ein weltweites Millionenpublikum erreicht werden kann“, fasst der Journalist Heiko Haupt das Phänomen des „Livestreaming“ zusammen.
Von Fälschungen und Sensationshascherei
So willkommen diese Handyvideos allen denjenigen sind, die das Vertrauen in die klassischen Medien verloren haben oder einfach nur gerne „Lügenpresse“ skandieren, so naiv ist es zu glauben, dass diese Videos zwingend den Tatsachen entsprechen. Manipulationen sind durchaus auch bei Amateurvideos möglich. So geschehen bei einem Video, das kurz nach den Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof die Runde machte und angeblich eine Gruppe Geflüchtete zeigte, die eine Frau belästigen und bedrängen. In Wahrheit handelte es sich dabei aber um ein Video, das 2011 auf einer Demonstration in Ägypten entstand und nicht wie behauptet 2016 in Köln. Die Glaubwürdigkeit solcher Videos ist also nie gewährleistet, egal ob es sich dabei um die Kölner Silvesternacht handelt oder um Varoufakis‘ Mittelfinger.
Amateurvideos befriedigen unseren Voyeurismus
Amateurvideos schaffen zudem etwas, was jede noch so gute Dokumentation nicht kann. Sie befriedigen unseren Voyeurismus in neuen Dimensionen. Jeder kann alles posten, auf Suche nach Viralität. Vielen scheint es da am erfolgsversprechendsten, die Grenzen des guten Geschmacks kilometerweit hinter sich zu lassen, auf der Jagd nach möglichst vielen Likes.
Wie beim Zugunglück in Bad Aibling am Faschingsdienstag. Auf einem verwackelten Video, von dem man im ersten Moment denkt, es wäre eine weitere Meldung über das Unglück, sieht man die Sekunden nach dem Aufprall der beiden Züge. Alles ist dunkel, man sieht Trümmer und hört Menschen, die derart schreien und stöhnen, das man sich wünschte, man hätte das Video nicht angeklickt. Es drängt sich einem die Frage auf, wer nach einem derartigen Ereignis auf die Idee kommt, sein Handy auszupacken und Verletzte zu filmen.
Jeder kann alles posten – und jeder kann alles kommentieren. Da tun sich unter Videos von Nachrichtenmeldungen, vorzugsweise über Flüchtlinge, gerne mal Kommentare auf, bei denen es einem angesichts von so viel Hass kalt den Rücken runterläuft und man sich fragt, wie weit es mit unserer Gesellschaft eigentlich gekommen ist. Amateurvideos haben durchaus ihre Berechtigung, sie können Nachrichtenmeldungen ergänzen oder, als neue Form der Berichterstattung, Sachverhalte aufdecken. Trotzdem sind sie mit Vosicht zu genießen und sollten, wie eigentlich alle Nachrichten, Meldungen und Kommentare, auch mal hinterfragt werden.
Bildquelle: Sonja Guina unter CC0 Lizenz