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Ich bin dann mal weg: Happy Birthday, Erasmus!

ERASMUS wird dieses Jahr 30 Jahre alt. Nein, nicht der Philosoph Desiderius Erasmus von Rotterdam, der an den verschiedensten Orten in Europa arbeitete und lebte, um sein Wissen durch neue Eindrücke zu erweitern, sondern das „European Action Scheme for the Mobility of University Students“. An diesem studentischen Austauschprogramm nehmen derzeit mehr als 4000 Institutionen in 37 verschiedenen europäischen Ländern teil.

Oft wurde das ERASMUS Programm kritisiert, da es sein Hauptziel verfehlt habe, eine europäische Identität zu stärken, indem es hauptsächlich an Student*innen adressiert sei, die sich ohnehin sehr europäisch fühlen. Nicht zuletzt, weil die Teilnahme daran noch immer jenen vorbehalten bleibe, deren sozioökonomischer Status diese Auszeit erlaube oder jenen, die ein bestimmtes Level an akademischer Leistung erreicht haben. Obendrein wurde es zu „ERASMUS-Orgasmus“ degradiert, weil es den Teilnehmer*innen hauptsächlich um exzessive Partys und sexuelle Kontakte ginge und nicht primär um einen internationalen wissenschaftlichen Gedankenaustausch.

 

Warum ist es uns so wichtig, im Ausland zu studieren?

 

An all diesen Aussagen ist ziemlich wenig zu rütteln und trotzdem strömen jedes Jahr Hunderttausende ERASMUS-Student*innen ins Ausland um dort zu „studieren“. Doch warum ist es uns wirklich so wichtig, im Ausland zu studieren? Weil wir dadurch das erste Mal in den Genuss kommen, uns völlig unbeobachtet ausprobieren zu können? Bildung hat das große Ziel, uns für die Herausforderungen des Erwachsenenlebens zu wappnen, doch unsere Schulen und Universitäten haben uns, was das angeht, nach Strich und Faden enttäuscht.

Die ersten Universitäten wurden in einer Zeit gegründet, in der das Ansehen der Religion zurückging. Sie sollten ein Ort werden, an dem wir alles finden könnten, was wir einst in der Kirche fanden: Bedeutung, Trost, Weisheit und Gemeinschaftssinn. Doch die Antworten auf unsere bohrenden Fragen werden uns bis heute verwehrt. Wir bleiben auf uns allein gestellt, etwas über Beziehungen zu lernen, herauszufinden, was wir mit unserem Leben anfangen sollen oder wie wir unser monetäres Verlangen mit unserem Bedarf an Bedeutung vereinbaren können.

Darum machen wir uns auf den Weg einer nicht zuletzt therapeutischen Reise im sanften Rahmen einer Studienbescheinigung, damit wir uns während der Selbstfindung nicht ganz nutzlos fühlen und ein Papier in der Hand halten können, welches unsere Daseinsberechtigung bestätigt. Wir reisen, um die beste Version von uns selbst zu werden. Um Orte zu besuchen, von denen wir erwarten, dass sie unserer inneren Evolution eine Hilfe sind. Eine äußerliche Reise, die unserer inneren eine große Hilfe ist.

 

Wir erlernen lebenspraktische Fähigkeiten

 

Für den Großteil der ERASMUS-Student*innen ist es das erste Mal, dass sie im Ausland leben. Und auch wenn den meisten von ihnen zu Beginn ihrer Reise noch nicht bewusst ist, was sie davon erwarten, lernen sie am Ende doch eine ganze Menge. Vielleicht nicht zwangsläufig all jene Punkte, die auf unseren Lehrplänen prangen, wie Drohungen, unser akademischen Versagen zum Vorschein zu bringen, sondern lebenspraktische Fähigkeiten: Wie wir leben sollen, was wirklich wichtig ist, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickeln soll, wie wir glücklich werden oder gar erfüllt.

Das ERASMUS-Programm ist eine große Chance, und ich plädiere dafür, dass wir uns alle noch einmal intensiv daran erinnern, statt diesen Teil unserer Biographie in dem hintersten Eckchen unserer Gehirnwindungen zu verstauen. Wir dürfen schmunzelnd zurückdenken, an die  Partys, auf denen wir schlechten Alkohol getrunken und Konversationen auf noch schlechterem Spanisch geführt haben. Wir dürfen daran laben, dass wir am Strand lagen und uns die Sonne auf die Plautze prallte, während unsere Kommiliton*innen in Deutschland über Klausuren schwitzten. Wir dürfen uns darüber freuen, dass wir zwei Semester in Zimmern ohne Heizung gelebt und vor allem überlebt haben.

 

Eine trostvolle Erinnerung statt verschwendete Zeit

 

Anstatt wie verwöhnte Kinder diese Erfahrungen als verschwendete Zeit abzutun – immer verbissen auf der Suche nach neuen – sollten wir unsere Vorstellung von Prestige ändern: Am 30. Geburtstag des ERASMUS Programmes reisen wir gemeinsam zu dem trostvollsten Orten in unserem Geist: unsere Erinnerung. Mit der Kunst der Anspielung, mit der Fertigkeit des Tagträumens und mit unserem Geschick für Nostalgie dürfen wir zur Feier des Tages dem leistungsgetriebenen Alltag entfliehen.

Wir waren jung und dumm und ja vielleicht war auch die Gesellschaft daran schuld, dass wir uns in einem Wohnzimmer zwischen Bierflaschen und Aschenbecher das erste Tattoo haben stechen lassen – aber wer wären wir heute, wenn es nie zu all dem gekommen wär? Wenn die Europäische Union nicht an der Illusion festgehalten hätte, dieses Europa zu unserem Europa zu machen? Wenn wir nicht mehr mit Menschen überall auf diesem Kontinent verbunden wären, emotional sowie über Facebook? Wenn wir nie damit konfrontiert gewesen wären, in jemanden verliebt zu sein, der unsere Sprache nicht spricht, oder mit Menschen zu lachen und zu tanzen, deren Tänze wir nicht kennen? Wenn wir uns nie an der Hand von jemandem zuhause gefühlt hätten, der von ganz wo anders ist?

 

Der Gedanke an Grenzenlosigkeit

 

Wenn wir an die neue Rechte denken, an Länder wie Polen, Frankreich oder sogar den Brexit, dann hat es ERASMUS vielleicht nicht unbedingt geschafft, Europa zusammen zu halten. Aber es hat einen Gedanken in das Gehirn von Hunderttausenden von jungen Menschen gepflanzt: der Gedanke an Verbundenheit, an Grenzenlosigkeit, an eine nicht durch geographische Gegebenheiten beschränkte Zugehörigkeit. Etwas, das nicht im Curriculum unserer Heimatuniversität steht. Zumindest noch nicht.

 

Bildquelle: Tim Gouw unter CC0 Lizenz