Sebastian Schramm Krebs Kolumne

Fürs Erste Krebs: Episode #3

Ein Engel gibt die Richtung vor

 

Barbara Engel ist eine kleine Frau, das Haar ist dünn und schütter. Sie praktiziere nur noch halbtags, sagt sie mir und schmunzelt. Ständig Arbeiten, das sei vorbei. Ihr Ton ist trocken, fast schon ruppig, aber trotzdem herzlich. Ich erzähle ihr alles, von den ersten Augenringen, dem Antibiotikum, der Angst, nicht zu wissen, was ich habe. Engel macht sich während der Anamnese ein paar Notizen, manchmal nickt sie, sonst bleibt sie still. „Stellen Sie sich mal bitte gerade hin, Herr Schramm.“ Ich solle husten, einmal, zweimal. Dann tastet sie mich ab; an Hals, Bauch und Leiste. Ich sehe an ihrem Blick, wie sich die möglichen Krankheiten immer weiter einengen. „Da ist etwas in ihnen, das Sie husten lässt. Wir müssen Ihre Lunge röntgen.“ Sie klingt sachlich, nicht überrascht oder besorgt. Als wäre da ein nur ein kleines Problem, eine Gleichung, aufgestellt, angesehen und zum Lösen bereit. Ihre Art beruhigt, mich irritiert nur, dass sie vor meinen Augen einen Termin in einer radiologischen Praxis besorgt, zudem ich fahren soll. „Sofort“, wie sie sagt. Die Schwester nimmt noch Blut ab und misst per EKG meine Herzaktivität. Mein Ruhepuls liegt knapp unter 100. Normal wären 20 bis 40 Schläge weniger. Beim Rausgehen drückt mir Engel den Überweisungszettel in die Hand. Erst später sehe ich, was sie unten in die Ecke geschrieben hat. Klein und unscheinbar. Acht Buchstaben und ein Fragezeichen. M. Hodgkin?

Das Röntgen dauert nicht lange, ich werde sofort aufgerufen. Alles geht schnell, nach 20 Minuten bin ich schon wieder raus, den Befund in der Hand, eingeschlagen in einem weißen Kuvert. Ich öffne ihn nicht, Engel ist noch da, ich gehe in die Praxis.
Sie liest still, ihr Gesicht zeigt keine Regung. Später lese ich den Arztbericht selbst. Lymphadenopathie, krankhafte Schwellung der Lymphknoten, steht dort geschrieben. Engel bricht es für mich herunter auf nur einen Satz, viel mehr kann sie mir nicht sagen. Vielleicht will sie es auch noch nicht. „Sie haben schon mal keine Metastasen.“ Ich verstehe nicht. Ist das jetzt eine gute Nachricht? Ich bleibe still, höre ihr einfach zu. Mein Gefühl ist ordentlich, immerhin scheint sie innerhalb weniger Stunden schon eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, an was es mir fehlt. Das Röntgenbild reicht aber nicht aus, ich müsse ins CT. Sie schlägt mir vor, dass wir uns morgen zur Blutauswertung treffen. Bis dahin hätte sie mir einen Termin besorgt. Abends telefoniere ich noch mit meiner Mutter, erzähle ihr, es gehe endlich voran. Wir sind irgendwie erleichtert. Das mit der Grenze war wohl doch eine gute Idee, sagen wir uns.

 

„Leukämie kann ich ausschließen“

 

Nervös und angespannt betrete ich am nächsten Morgen das Behandlungszimmer. Ein komisches Gefühl, nach Wochen der Ungewissheit vielleicht endlich eine richtige Diagnose zu bekommen. Vor Engel auf ihrem Schreibtisch liegt ein kleiner Zettel, meine Blutauswertung. Zwei Werte hat sie mit Gelb markiert. Ein bestimmtes Eiweiß in meinem Blut ist um ein Fünffaches erhöht, dazu unnormale Werte meines Immunsystems. Es ist angegriffen. „Leukämie kann ich ausschließen“, sagt sie. „Wenn ich mir die Werte ansehe, tippe ich auf Morbus Hodgkin.“ Immer wieder schaut Engel auf meinen Brustkorb, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie würde mir gerne etwas anderes diagnostizieren. Aber ihr fällt nichts mehr ein. Das Wort Krebs benutzt sie kein einziges Mal. Wie könne man das denn behandeln, frage ich unsicher. „Mit chemotherapeutischen Medikamenten.“ Ich nicke nur, nehme gar nicht richtig wahr, worum es gerade geht. An Krebs denke ich noch immer nicht wirklich, selbst als der Begriff Chemotherapie fällt. Morgen sei der Termin im CT, um elf Uhr. Sie schreibt mich krank bis Montag, da wolle sie mich sehen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Ich solle mich ausruhen und bitte, sagt sie, bitte: Ich solle mich nicht im Internet über die Krankheit informieren. Ich entdecke Mitleid in ihrem Blick, als ich gehe. „Das alles hier ist nicht zum Sterben, sondern zum Behandeln.“

Ich bringe den Krankenschein zur Arbeit. Der Verlag ist zu Fuß nur zehn Minuten von der Praxis entfernt. Ich rufe Mama an und eröffne ihr, was im Raum steht. Ein Gespräch unter veränderten Vorzeichen. „Und wie kann man das behandeln?“ „Mit chemotherapeutischen Medikamenten.“ Meine Stimme gehorcht mir nicht mehr. Tränen laufen über meine Wangen, ich ziehe meinen Schal ins Gesicht, damit mich niemand erkennt. „Nicht weinen, Basti. Nicht weinen. Wir bekommen das hin.“ Sie muss nicht weinen. Erst später erfahre ich, dass sie nach dem Telefonat nicht mehr in der Lage war, zu arbeiten. Nach einer Zigarette ist sie nach Hause gefahren. Mama ist Nichtraucherin. Wieder in meiner Wohnung, schmeiße ich den Laptop an. Google öffnet sich wegen meines Chrome-Browsers automatisch und ich tippe acht Buchstaben in die Suchleiste: M. Hodgkin. Der erste Treffer ist die Internetseite der deutschen Krebsgesellschaft. Ich höre nicht mehr auf zu weinen.