Die Polarlichter sind in Norwegen zu sehen

Ein halbes Jahr in Norwegen: Einfach mal durchatmen

Für mein Auslandsemester war ich ein halbes Jahr in Norwegen. Etwas mehr als zwei Stunden dauert der Flug von München nach Oslo. Ein Katzensprung eigentlich. Aber mit diesen zwei Stunden habe ich mehr Entfernung überwunden, als man vielleicht meinen würde.

Das erste, was ich mir dachte, als ich das Flugzeug verlassen habe, war: „Oh, es ist ja gar nicht so kalt.“ Es war Anfang August, aber ich war überzeugt davon, dass es kälter als in Deutschland sein musste. Die Sonne hat geschienen und die Landschaft fast schon leuchten lassen. Ich hatte das Gefühl, dass die Farben irgendwie intensiver sind, die Luft klarer und der Horizont weiter. Lillehammer heißt die Stadt, in der ich gelebt habe. Sie liegt mit dem Zug etwa zwei Stunden entfernt von Oslo, ist bekannt für die olympischen Winterspiele 1994. Die typischen skandinavischen Häuschen aus Holz sind mir sofort ins Auge gesprungen: Es sah genau so aus, wie man sich Norwegen vorgestellt hatte. „Hier ist alles nicht so streng“, erzählte mir das Mädchen, das mich vom Bahnhof abgeholt hatte und sah auf die FFP2-Maske in meiner Hand. „Maskenpflicht gibt es hier nicht.“

Garnier-Gesichtsmasken gegen Corona

Die Pandemie war nicht wirklich ein Thema. Clubs, Bars und andere Freizeitaktivitäten hatten geöffnet und niemand trug eine Maske. Für einen Ausflug, wollte ich mir trotzdem eine kaufen. Der Verkäufer in dem Laden sah mich verwirrt an, als ich ihn danach fragte. Er lief durch den Supermarkt und kam dann mit einer Garnier-Gesichtsmaske zurück. An einen Mundschutz, der vor dem Virus schützt, dachte er gar nicht erst. Das einzige, was mich an Corona erinnerte, waren die Desinfektionsmittelspender in den Supermärkten. Und die hat – anders als in Deutschland – auch jeder benutzt. „Die Leute halten sich hier an die Regeln“, erzählte mir eine Norwegerin. „Wenn da dieser Spender steht, dann machen wir das. Und wenn es jetzt eine Maskenpflicht gäbe, dann würden wir die eben aufsetzen. Ohne Gemecker und Ärger.“ Das Zusammenleben in Lillehammer basiert auf gegenseitigem Vertrauen. In den wenigsten Läden gibt es Diebstahlsicherungen. Und trotzdem hat irgendwie alles funktioniert. Die Menschen haben eben viele Freiheiten – und dafür halten sie sich an die paar Regeln, die sie haben. Vielleicht ist das Norwegens Geheimnis.

Lillehammer ist eine kleine Stadt – trotzdem ist sie sehr belebt und lebendig. Ich kann nicht sagen, was es war, aber ich habe mich zuhause gefühlt. Das hängt sicherlich auch sehr stark mit der Freundlichkeit der Menschen dort zusammen. Schlechte Laune schien es nur selten zu geben. Wenn ich an der Kasse einen Moment länger gebraucht habe, hat das niemanden gestört. Brauche ich in Deutschland hingegen nur eine Millisekunde länger, mein Geld einzupacken, ernte ich genervte Blicke des Verkäufers und ziehe den Hass aller Menschen in der Schlange hinter mir auf mich. Ich habe ihnen ja Sekunden ihrer wertvollen Lebenszeit geraubt. In Deutschland sind irgendwie alle gestresst, immer auf dem Sprung, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Ich habe mich selber oft dabei ertappt, wie ich mich umgeschaut habe, wem ich gerade wie im Weg stehen könnte. Aber das war nie der Fall. Ich habe das Gefühl, dass man in Norwegen das Leben mehr auf sich zukommen lässt und im Moment lebt. Und wenn der mal länger dauert? Dann ist das so.

Arbeiten, um zu leben – nicht andersherum

Das hat mir auch ein Verkäufer in Lillehammer erzählt. Jedes Wochenende hat er in der Fußgängerzone seinen Käse-Stand aufgebaut. Als er gehört hat, dass eine Freundin und ich deutsch gesprochen haben, hat er uns begeistert gegrüßt. Er habe auch eine Zeit lang in Deutschland gelebt, hat er erzählt. Obwohl Deutschland ihm gefallen hat, ist er nach Norwegen zurückgekommen. „Die Leute leben da, um zu arbeiten“, meinte er. „Hier arbeitet man, um zu leben.“. Er ist sich sicher, dass die Menschen hier irgendwie zufriedener sind. Recht hat er, wenn man sich die ganzen Statistiken einmal ansieht. Er ist gerne hier. In Norwegen ist für alles vorgesorgt, sagt er. So etwas wie Altersarmut gebe es eigentlich nicht. Generell sei hier alles leichter. Weniger Bürokratie, mehr Ergebnisse.

Wir wurden oft angesprochen, ob wir aus Deutschland sind. Die Leute fanden das toll. Stolz haben sie uns erzählt, dass sie deutsch in der Schule gelernt haben. Demonstrativ sagten sie uns ein brüchiges „Ich liebe dich“ auf. Die Menschen waren freundlich, aber niemals aufdringlich. Eher im Gegenteil. Norweger*innen sagt man hinterher, dass sie sehr introvertiert seien. „Wir würden uns im Bus niemals auf einen freien Platz neben einen Fremden setzen“, erzählte mir meine norwegische Mitbewohnerin. „Aber wenn was ist, dann hilft man dir sofort.“ Diese Einstellung zog sich eigentlich durch den ganzen Alltag. Wenn ich als Fußgängerin über den Zebrastreifen wollte, machte das Auto lieber eine Vollbremsung, als mich nicht über die Straße zu lassen. In der Uni haben wir unsere Dozent*innen beim Vornamen genannt. Es gab außerdem sehr viele ECTS für sehr wenig Aufwand – das war ich nicht gewohnt. Für eine Hausarbeit mussten wir in Gruppen arbeiten, im Nachhinein habe ich gehört, dass unsere Kommiliton*innen sich sogar über „die Deutschen“ beschwert haben: Wir hätten viel zu viel gemacht. Alles war irgendwie entspannter.

Es war zwei Stunden hell

Im November begann es das erste mal zu schneien. Obwohl es kalt war, war es nie so richtig grau. Fast jeden Tag gab es atemberaubende Sonnenuntergänge (Die ich jedoch irgendwann nicht mehr sehen konnte, weil jeder sie jeden Tag in seiner Instagram-Story postete). Dunkel wurde es gegen 15.30 Uhr. Anders war das in Tromsø. Hierhin machten wir zum Abschluss einen Trip: Tromsø liegt ganz im Norden Norwegens. Die Tage dauern hier zwei Stunden. Die Sonne ging gegen elf auf und verschwand ab 13 Uhr langsam wieder. Die Stimmung war irgendwie sonderbar, ein bisschen wie im Traum. Es war wirklich kalt: Obwohl ich mehrere Schichten Klamotten trug, spürte ich abends meine Füße nicht mehr. Während wir durch die Stadt gingen, redeten wir die ganze Zeit über heiße Duschen und Whirlpools. Hauptsache an irgendwas denken, was warm ist. Aber die Kälte war es wert: Wir sahen die Nordlichter und fütterten Rentiere. Der Trip war einmalig, etwas vergleichbares habe ich noch nie erlebt.

Das halbe Jahr in Norwegen hat mich – vor allem nach der Corona-Zeit – durchatmen lassen. Ich habe gelernt, dass alles auch mit weniger Stress funktioniert. Immerhin gehören die Einwohner*innen Norwegens zu den glücklichsten Menschen auf der Welt.

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Bildquelle: stein egil liland von Pexels; CC0-Lizenz