Hochstapler-Syndrom: Vom Gefühl, ein Lügner zu sein

Wann genau es angefangen hat, weiß ich nicht. Vielleicht im dritten Semester. Doch irgendwann war es da: das Gefühl, ein Betrüger zu sein. Die Vorlesung in der Uni wurde zum Spießrutenlauf und vor einem Besuch in der Mensa hatte ich mehr Angst als vor Frau Mahlzahn, Cruella de Vil oder Voldemort. Ich versuchte, meinen Kommilitonen aus dem Weg zu gehen, hatte Angst, dass jemand mich entlarven und herausfinden könnte, dass ich nicht so klug bin. Dass ich an der Uni nichts zu suchen habe. Dass die bisherigen einigermaßen guten Noten nichts als Multiple-Choice-Glück war.

Du schummelst doch nur!

Erst mied ich die Mensa, dann die WG-Partys und schließlich den Seminarraum. Jede Hausarbeit, die ich angefangen hatte, gab ich nicht ab. Jedes Referat, das ich vorbereitete, hielt ich nicht. Ich hatte Angst, dass mein Professor mich bei der Uni-Leitung melden würde: „Nicht geeignet. Bitte sofort und endgültig wegen Dummheit verweisen“. Dabei hatte ich ja gute Noten – nichts schlechter als 1,7. Doch besonders gut habe ich mich nie gefühlt. Saß ich in einem Seminar und hatte eine Frage zum Text, schoss mir immer gleich durch den Kopf, dass die auch total idiotisch sein könnte. Immer öfters suchte mich dieser Gedanke heim, bis ich einfach nur noch stumm dasaß und dann irgendwann gar nicht mehr auftauchte.

Schwindel durch Glück und Zufall

Erst Jahre später habe ich herausgefunden, dass meine Gefühlslage von Psychologen auch als Hochstapler-Syndrom bezeichnet wird. Das ständige Gefühl, eine Mogelpackung zu sein, den Ansprüchen nicht zu entsprechen und durch Zufall und der fehlerhaften Überschätzung der anderen falschen Ruhm abzugreifen. Umso mehr ich über dieses Thema las, desto mehr wurde mir klar, dass ich nicht die einzige bin, die unter solchen Gedanken leidet.

Das Hochstapler-Syndrom oder auch Impostor-Syndrom wurde das erste Mal von den amerikanischen Psychologinnen Pauline R. Clance und Suzanne A. Imes in den Siebzigern in der Literatur erwähnt. Die Menschen, die am Hochstapler-Syndrom leiden, leben mit der ständigen Sorge vor Enttarnung und Bloßstellung. Dabei ist das nur Einbildung: Denn die Betroffenen sind oft überdurchschnittlich erfolgreich. In ihren Studien konnten sie beobachten, dass viele der sehr erfolgreichen befragten Frauen ihre Leistungen nicht für überdurchschnittlich hielten. Sie stellten ihre Intelligenz in Frage und hielten ihre Leistungen für von anderen überschätzt. Das Syndrom ist leider weit verbreitet.

Selbst Hermine zweifelt

Auch auf dem roten Teppich machen sich Selbstzweifel und Ängste breit. Prominente Persönlichkeiten, die unter dem Hochstapler-Syndrom leiden, sind zum Beispiel die Schauspielerinnen Jennifer Aniston, Emma Watson und Jodie Foster. Die Darstellerin der Streberin Hermine aus Harry Potter verriet einmal: „Es fühlt sich für mich so an, als ob jeden Moment jemand herausfinden könnte, dass ich eine totale Betrügerin bin und das, was ich bisher erreicht habe, gar nicht verdiene.“

Die Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Heidelberg Birgit Spinath beschäftigt sich als eine der wenigen Wissenschaftlerinnen in Deutschland intensiv mit dem Impostor-Phänomen. Damals wurde angenommen, dass es angeboren ist und nur schwer an den Gefühlen und Gedanken verändert werden könne. Doch Spinath ist überzeugt, dass der Betroffene das Syndrom ablegen kann. Dabei bräuchte er jedoch Hilfe von außen, denn alleine sei es fast unmöglich, aus der Abwärtsspirale herauszufinden.

Die Ursachen für das psychologische Störungsbild sieht Spinath in der quälenden Form des Tiefstapelns in der modernen Leistungsgesellschaft. Das ständige Vergleichen mit anderen. Auch negative Kindheitserfahrungen sollen zu dem Syndrom führen. Betroffene sollen in ihrem Elternhaus gelernt haben, dass sie nur geliebt werden, wenn sie permanent bestimmte Leistungen erzielen. Deswegen sei auch das Selbstvertrauen entsprechend schwach ausgeprägt. Weitere Anzeichen sind die überdimensionierte Vorstellung von Kompetenz, eine komplexe Meinung zu Erfolg und die große Furcht vor negativer Kritik.

Was hilft?

Genauso viel Zeit wie das Syndrom brauchte, um sich schleichend in unserem Innersten einzunisten, dauert es, bis wir es wieder vollständig loswerden. Und wie im Impressionismus gilt auch hier: kleine Schritte führen zum Ziel. Betont wird immer wieder die Hilfe von Außenstehenden, denen man sich anvertrauen kann; die eine objektive Sicht haben. Das kann ein Freund sein, aber auch ein professioneller Lebensberater. Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Fakten: Wohl jeder fühlt sich mal nicht besonders clever, aber nur weil man sich so fühlt, entspricht das nicht unbedingt der Wahrheit. Und schon alleine der eingebildeten Schwindelei einen Namen zu geben, kann nützlich sein, sich davon zu befreien.

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Bild: Cristopher Campbell unter cco 1.0