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Gegen das Heimfahren: Bleib doch mal im Hier und Jetzt!

Wochenende, Feiertage, Semesterferien – das sind die Zeitpunkte, an denen Wohnungen leer und Bahnhöfe voll sind. Während Mitfahrgelegenheiten, Fernbusse und Bahnen restlos ausverkauft sind, schrumpft die Einwohnerzahl der Städte urplötzlich. Es ist eine umgekehrte Landflucht, die immer wieder zu beobachten ist. Für endlose Hobby-Pendler ist der Heimatort das Refugium Nummer Eins – zu dem sie stets in Begleitung ihres Koffers und einer inneren Zerrissenheit zurückkehren.

Nicht zu jung zum Ausziehen

Kurz nach dem Abitur gibt es zwei Gruppen. Diejenigen, die schon zwei Monate zuvor ihr neues WG-Zimmer im Geiste eingerichtet haben. Und diejenigen, die sich weigern, Mamas Rockzipfel endlich loszulassen. Aber die Immatrikulation an einer Hochschule bringt oft das Packen von Kisten mit sich. Mit dem Studium beginnt ein neuer Lebensabschnitt, der viel Mut und Selbstvertrauen erfordert.

Es gibt viele Beiträge in Foren, die klar machen, dass man mit seiner Angst vor dem Lebenswandel nicht allein dasteht. Eine 18-jährige Userin schreibt in einem Forum auf kleiderkreisel über ihre Bedenken wegen ihres bevorstehenden Umzugs: „Ich war nie ein Kind, das Heimweh hatte, und auch nie so ein Mamakind oder so. (…) Und jetzt, wo das alles schon so feststeht, bin ich total traurig, nur noch am heulen, wenn ich daran denk‘, bald auszuziehen.“ Sich dieser Veränderung trotz der Unsicherheit zu stellen, ist wichtig. Diese dann aber auch (vor allem übers Wochenende hinweg!) durchzuziehen, ist noch viel wichtiger.

Angst vor der Selbstständigkeit

Immer wieder das WG-Zimmer oder die Ein-Zimmer-Wohnung von Donnerstagabend bis Montagmorgen zu verlassen, um ins heimische Nest zu fliehen, ist wie Schummeln. Offiziell hat man sich für einen neuen Wohnort entschieden, während der eigentliche Hauptwohnsitz aber immer noch das Kinderzimmer mit den alten Postern und dem ausgedienten Bettbezug ist. In einem Forum auf studentenseite beschwert sich ein User: „Wir alle sind ja mittlerweile schon > 20 Jahre alt und trotzdem scheint es so, als wollten alle immer nur nach Hause zu Mutti. Ich versteh‘ das echt nicht.“ Natürlich warten zu Hause wunderbare Extras auf einen: „Die Wäsche wird gewaschen und der Kühlschrank gefüllt“, zitiert Spiegel Online Sonja Eser von der Lernberatung der Universität Augsburg. Aber Eser warnt auch: „So wird manchem der Übergang von Schulzeit zu Studium nicht richtig bewusst, und er unterschätzt die Anforderungen.“

Neben den Hotel-Mama-Bequemlichkeiten sind es oft auch alte Freunde oder eine Beziehung, die einen immer wieder heimziehen. Dabei läuft man Gefahr, neue Freundschaften durch die ständige Abwesenheit überhaupt nicht aufbauen zu können. „Das braucht natürlich Zeit. Man muss sich dem anderen gegenüber öffnen und auch über intime Dinge oder Verletzungen sprechen“, sagt Eva-Maria Orgel von der psychologisch-psychotherapeutischen Beratung des Studentenwerks Berlin der Süddeutschen Zeitung. Alten Freundschaften hingegen, die die plötzliche Distanz nicht überstehen, darf man laut Orgel ruhig eine Weile hinterher heulen: „Diese Trauer zu unterdrücken, bringt nichts. Der Abschied von alten Strukturen hat seine Berechtigung, aber das hat ja auch Positives: So wird der Weg frei für Neues.“ Um Schulfreundschaften und auch die Liebe nicht zu verlieren, solle man versuchen, diese mit ins neue Leben zu integrieren, da einen sonst schnell nichts anderes mehr verbinde, außer die Erinnerungen an vergangene Erlebnisse. Und das geht nur, indem man sich sein eigenes Nest einrichtet und die anderen, zum Beispiel durch Besuche, daran teilhaben lässt.

Es ist Zeit, erwachsen zu werden

Jede freie Stunde heimzufahren, ist anstrengend. Und dort ist dann auch oft schon alles durchgeplant: Dates mit dem Partner, Essen mit der Familie, Besuche bei Freunden und vielleicht noch Volleyballtraining und Fußballspiele – und das alles innerhalb von 48 Stunden. Dann geht’s wieder ab auf den Fahrersitz oder in den Zug und zurück ins Studentenleben, zumindest bis zur nächsten Gelegenheit, sich erneut im alten Leben zu verstecken. „Das nach Hause fahren muss sukzessive verringert werden“, mahnt Orgel. Denn sonst enstehe eine innere Zerrissenheit, die einen nirgends richtig ankommen lässt.

Sich selbst um die Wäsche zu kümmern, über die Tiefkühlpizza-Kochkünste hinaus zu wachsen und die Angst davor zu verlieren, das bestehende Freundschaftsnetz zu vergrößern, gehört zum Erwachsenwerden dazu. Irgendwann wird es unumgänglich werden, nicht ständig heimzufahren. Wenn ein Jobangebot aus einem anderen Winkel des Landes kommt, zum Beispiel. Oder plötzlich das Gefühl auftaucht, doch irgendetwas verpasst zu haben. Denn eingeklemmt zwischen dem Kinderzimmer und angestaubten Beziehungen hat man nicht die Möglichkeit, über sich selbst hinauszuwachsen. Und man verpasst sie: die Freiheit, die so ein selbstbestimmtes Leben fernab jeglicher sozialer Verantwortung mit sich bringt.

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Bildquelle: Alexander Shustov unter CC01.0