Studierende erzählen, wie sie mit dem Terror in Istanbul umgehen

Das könnte dich auch interessieren:

Timur, 20

studiert Jura in Berlin

 „Die Einheimischen können auch nicht abhauen!“ – „Sie würden aber, wenn sie könnten.“

„Es war ein perfekter Tag: Lucie, Sophia und ich waren morgens in Dalyan angekommen, einem kleinen Ort an der türkischen Westküste. Meeresschildkröten der größten Art waren hier zu Hause, die man auf dem Weg zum Strand von kleinen Wassertaxen aus mit blauen Krebsen füttern konnte. Es war der schönste Ort auf unserer Post-Erasmus-Reise durch die Türkei. Abends sprangen Lucie und ich noch einmal in den Pool. Wir diskutierten über belanglose Dinge als Sophia langsam in unsere Richtung kam, sie blickte angestrengt auf ihr Handy. Endlich beim Pool angekommen sagte sie: „Schon wieder ‘ne Explosion. Atatürk-Flughafen.“ Lucie und ich verstummten. „Es ist so ein schöner Tag, lasst uns heute bitte nicht darüber reden, okay?“. Die beiden stimmten mir zu.

An den ersten Anschlag konnte ich mich noch gut erinnern: Mit ein paar Freunden zusammen nahmen wir an einer Erasmusreise teil, nach Eskişehir, dem Münster der Türkei. Schon bei unserer Abfahrt hatten wir alle ein mulmiges Gefühl. Denn schon Tage vorher hatte die beim Taksim-Platz gelegene deutsche Botschaft wegen Terrorwarnung geschlossen, die türkischen Behörden hatten es als übertrieben abgetan. Kaum waren wir losgefahren, kamen die ersten Eilmeldungen auf unsere Handys. Auf der Istiklal, der bekanntesten Einkaufsstraße im Herzen Istanbuls, hatte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gejagt. Nachdem alle ihren Eltern und Freunden geschrieben hatten, dominierte auf unserem Ausflug nach Eskişehir der Anschlag die Gespräche. Vorsichtig fragte man sich gegenseitig: „Und du, hast du vor abzubrechen?“ Erstaunlicherweise ist niemand, den ich kannte, früher heimgekehrt. Aber es haben alle darüber nachgedacht.

Als wir nach Istanbul zurückkamen, gab es neuerdings Sicherheitskontrollen am Straßeneingang zur Metro. Es gab immer schon Security, unten bei den Drehkreuzen, aber die kontrollierte nie wirklich. Es war ein witziger Zeitvertreib, wenn man gemeinsam Metro fuhr, sich Taktiken auszudenken, wie man die Kontrolle als Terrorist ganz einfach austricksen könnte. Die neuen Kontrollen hingegen waren streng, sie schauten in jede Tasche, es dauerte. Es waren deutlich weniger Menschen unterwegs, viele schauten besorgt. Zumindest bildete ich mir das ein. Ich bildete mir viel ein, denn meine Wahrnehmung der Umgebung hatte sich verändert. Als ich in einer ziemlich leeren Straßenbahn ein Mann mit langem Bart genau neben mich setzte, hatte ich das Bedürfnis mich umzusetzen. Immerhin zielten die bisherigen Anschläge auf Touristen und ich sah aus wie einer. Mir wurde klar, dass ich unterbewusst rassistische Denkmuster entwickelt hatte. Ich blieb sitzen.

Meine Eltern hatten Angst um mich. Bei der Diskussion mit meinen Eltern, ob ich bleiben oder zurückkommen sollte, ignorierte ich meine eigene Angst. „Die Einheimischen können auch nicht abhauen!“ – „Sie würden aber, wenn sie könnten.“, „Beim Autounfall zu sterben ist viel wahrscheinlicher als bei einem Anschlag!“ – „Deshalb musst du dich trotzdem nicht dem Risiko aussetzen.“. Dies waren die Standardargumente, die wir uns gegenseitig an den Kopf warfen. Doch was sollte ich zu Hause in Berlin? Mich bei einem Anschlag freuen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte? Oder gar, wenn das Semester vorbei wäre und niemand getötet wurde, am Ende traurig sein, dass ich auch hätte bleiben können? Absurd, dachte ich und hielt meine Eltern hin. „Warten wir erst einmal ab.“

Dass es die richtige Entscheidung war, nicht überstürzt abzureisen, sagt sich aus heutiger Perspektive leicht, schließlich bin ich unversehrt zurückgekommen. Doch auch aus damaliger Sicht schien es in Europa nicht viel sicherer. Bei einem Terroranschlag zu sterben, gehörte nun offenbar zum Alltagsrisiko. Deshalb unser Leben einzuschränken, kam für uns nicht in Betracht.

Wir trafen uns nachmittags in Beşiktaş zum Frühstücken, fütterten Möwen auf der Fähre von Europa nach Asien, aßen nach dem Unterricht die bestgewürzten Fischbrote in Galata und gingen zur Entspannung nach dem Hamam in Fatih gemütlich Shisha rauchen. So zog das Semester an uns vorbei. Als die drückende Hitze in Istanbul uns zu Kopf stieg, entschieden wir, die Küsten der Türkei zu bereisen. Natürlich schafften wir es nicht, nicht über den Anschlag zu reden. Und so verbrachten wir, anstatt von Schildkröten und Felsfriedhöfen, von Wassertaxen und Sandstränden zu schwärmen, den ganzen Abend erneut damit, Verwandten und Freunden mitzuteilen, dass wir noch lebten. Doch trotz allem war uns eine Sache bewusst: wären wir damals heimgekehrt, wir hätten einiges verpasst!“