Studierende erzählen, wie sie mit dem Terror in Istanbul umgehen

Ibrahim, 27

studiert BWL in München

„Würde ich nach Mexiko gehen, dann wären bestimmt alle total begeistert, aber bei Istanbul hatte ich oft das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.“

„Ich studiere momentan in Istanbul. Der Gedanke, mein Auslandssemester abzusagen, kam mir einmal. Das war, als ich die Eilmeldung auf meinem Handy sah: „Türkisches Militär verkündet Machtübernahme.“ Genau vor dieser Situation hatte ich mich gefürchtet, denn es hieß immer wieder mal, dass dies passieren könne und eine Militärdiktatur wäre für mich ein Grund gewesen, in Deutschland zu bleiben. Doch der Putschversuch bliebt nur ein „Versuch“ und scheiterte. Relativ schnell ging das Gerede darüber in eine andere Richtung und so war die Säuberungswelle in den Vordergrund gerückt. Diese waren ironischerweise ein Ansporn für mich, da ich es unfassbar interessant finde, innerhalb dieser politisch so vielfältigen und brisanten Gesellschaft, Eindrücke aufzufangen. Von Studenten, die ein Semester zuvor in der Türkei gewesen sind, erfuhr ich zudem, dass man als Gaststudent weitgehend unberührt bleibt, was die politischen Konsequenzen im Land angeht. Meine Eltern haben mich bei meiner Entscheidung jederzeit unterstützt und zu keiner Zeit Einfluss genommen. Dies mag aber auch daran liegen, dass sie Lebenserfahrung in einer noch viel chaotischeren Türkei haben und somit ruhiger gestimmt waren. Wahrscheinlich schätzen sie die momentane Lage auch deshalb nicht als ganz so drastisch ein, wie es die Medien vermitteln.

Mein Umfeld reagierte da anders als meine Familie. Viele konnten nicht nachvollziehen, warum ich gerade jetzt in die Türkei wollte. Ich musste mir viele Sprüche anhören, aber hatte immer eine passende Antwort parat. Vielleicht lassen sich die Reaktionen auch durch den Einfluss der Medien erklären. So richtig nachvollziehen kann ich aber nicht, dass so viele Menschen nun die Türkei oder besser Istanbul, lieber meiden. Natürlich besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Anschlag kommen kann. Will ich auch gar nicht abstreiten, ein mulmiges Gefühl hat jeder wohl ab und an. Aber es kann doch überall was passieren. In München wohne ich ca. fünf Minuten vom Olympia-Einkaufszentrum entfernt und musste miterleben, dass die Gefahr auch hier besteht. Gehe ich jetzt auch nie wieder in das OEZ? Würde ich nach Mexiko gehen, dann wären bestimmt alle total begeistert, aber bei Istanbul hatte ich oft das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Falsch wäre es meiner Meinung nach, nicht gekommen zu sein! Denn dann hätte ich eine tolle Erfahrung an mir vorbeiziehen lassen und hätte gleichzeitig die türkischen Menschen wegen diplomatischen Spannungen in ihrem Land bestraft, für die sie nichts können. Die Türken sind wundervoll, das weiß ich, weil ich schon oft in der Türkei gewesen bin. Es wäre einfach schade, solche Aufenthalte wegen extrem geringem Eigenrisiko abzusagen und ihnen somit die Chance zu nehmen, Gastgeber zu sein und ihre Herzlichkeit zu teilen.

Ich erlebe Istanbul so wie immer: Bunt, laut, chaotisch, groß. Aber bis dato gab es keine einzige Situation, bei der ich Anspannungen bemerkte. Lediglich die etwas hochgefahrene Polizeipräsenz fällt auf. Ich habe inzwischen sehr viele Erasmus-Studenten kennengelernt. Sie sind „überall“. In meiner Wahrnehmung und das liegt an der etwas prekären Lage, die momentan vorherrscht, sind dieses Semester ungewöhnlich viele Kämpfernaturen und Überlebenskünstler für ein Auslandssemester nach Istanbul gekommen. Ich freue mich darüber, meine Zeit hier mit diesen Menschen verbringen zu dürfen. Und ja, in Istanbul ist das Risiko für einen weiteren Anschlag vielleicht ein paar Prozent höher, dennoch bin ich fest davon überzeugt: Wenn es passieren soll, dann passiert es, das ist dann Pech. Ob in Brüssel, München oder Istanbul. Einschränken lassen sollte sich deshalb niemand.“