Interview: Jerko Bakotin über Pushbacks an der EU-Außengrenze

TRIGGERWARNUNG: In diesem Interview wird Gewalt graphisch beschrieben. Lesen auf eigene Verantwortung!

Ich traf Jerko Bakotin im Juni 2022 in Zagreb, Kroatien und stellte ihm einige Fragen zur Situation an der EU-Außengrenze.

Jerko Bakotin ist Journalist bei der politischen Wochenzeitung „Novosti“. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf regionaler und europäischer Geopolitik, Menschenrechten, Gesellschaft und Migration. Seit mehreren Jahren berichtet er über die Gewalt gegen Migrant*innen und illegale Pushback-Praktiken an der kroatischen Grenze, die gleichzeitig Außengrenze der EU ist. (Pushback: das Zurückdrängen von Migrant*innen hinter die Landesgrenze).


Herr Bakotin, ich habe ein paar Fragen zu den Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze. Zunächst einmal: Wer führt diese Pushbacks durch?

Bakotin: Die Pushbacks werden von den kroatischen Polizeikräften durchgeführt. In den letzten Jahren war etwa ein Drittel der fast 20.000 Mann starken Polizeikräfte mit dem Schutz der Grenze betraut. Die kroatische Grenze zu Serbien, Bosnien und Herzegowina und Montenegro ist die längste EU-Außengrenze. Außerdem strebt Kroatien den Beitritt zum Schengen-Raum an, der Anfang 2023 erfolgen soll, so dass das Land versucht seine Zuverlässigkeit als Wächter der EU-Grenzen unter Beweis zu stellen.

Internationale Journalisten haben Videoaufnahmen gemacht, auf denen zu sehen ist, wie uniformierte, kroatische Polizeikräfte Migranten zurückdrängen – eine Praxis, die nach internationalen und europäischen Vorschriften und Konventionen illegal ist. Ein Pushback ist an sich schon illegale Praxis, da es einen Verstoß gegen das international garantierte Recht auf Asyl darstellt. Einigen Schätzungen zufolge hat die kroatische Polizei allein im letzten Jahr fast 20.000 Menschen illegal aus ihrem Hoheitsgebiet abgeschoben.

Ein erheblicher Teil dieser Abschiebungen wird von Gewalt begleitet. Nach Angaben der renommierten Nichtregierungsorganisation “Danish Refugee Council” hat Kroatien im Jahr 2020 16.425 Migranten aus seinem Hoheitsgebiet ausgewiesen. Von den 1.245 Migranten, die im August dieses Jahres ausgewiesen wurden, berichtete ein Viertel über körperliche Misshandlungen durch die kroatische Polizei, und 59 Prozent berichteten, dass ihr Eigentum gestohlen oder zerstört wurde. Dieses Ausmaß an Gewalt kann nicht als „Einzelfall“ bezeichnet werden – man kann von einer systematischen Kampagne der massenhaften Verletzung von Menschenrechten und Folter sprechen. 

Die schlimmsten Gräueltaten werden von den so genannten „Men in Black“ begangen. Dabei handelt es sich um Polizisten, die schwarze Uniformen ohne offizielle Abzeichen sowie Sturmhauben tragen, so dass sie nicht identifiziert werden können. Deshalb haben die Flüchtlinge selbst ihnen diesen Spitznamen gegeben.

Was macht Sie so sicher, wenn sie keine Uniformen tragen?

Bakotin: Im Jahr 2021 nahm ich an einer internationalen journalistischen Recherche teil, die von der niederländischen Medienplattform “Lighthouse Reports” geleitet und koordiniert wurde und den Titel „Unmasking Europe’s Shadow Armies“ trug. Während der Untersuchung gelang es unseren Kollegen Klaas van Dijken und Lamia Šabić, die „Männer in Schwarz“ dabei zu filmen, wie sie eine Gruppe von Flüchtlingen brutal zusammenschlugen

Später führten wir eine forensische Untersuchung des Videos durch. Es stellte sich heraus, dass die „Männer in Schwarz“ über die typische Ausrüstung der kroatischen Bereitschaftspolizei verfügen. Ihre Gewehre, der Tonfa-Polizeistock, sogar die Unterjacken der Uniformen – all das ist typische Polizeiausrüstung

Und die Grenze wird überwacht. Mit Kameras, Patrouillen, sogar mit Drohnen. Es kann nicht sein, dass dort jeden Tag vermummte Männer ihr Unwesen treiben, die nicht von der Polizei selbst oder von ihr beauftragt sind. Das haben wir uns auch von einigen Polizeibeamten bestätigen lassen. Ein paar Tage nachdem unsere Untersuchung am 6. Oktober 2021 in vielen großen europäischen Medien veröffentlicht wurde, gab der Innenminister Davor Bozinovic zu, dass die Männer auf dem Video Mitglieder der kroatischen Polizei sind. Natürlich behaupteten sie, dies sei ein „isolierter Vorfall“ gewesen, der nicht das Verhalten der kroatischen Polizei repräsentiere. Die Berichte über brutale Gewalt gehen jedoch in die Tausende.

Wie gehen die „Men in Black“ dabei vor?

Bakotin: Äußerst brutal. Sie schlagen Menschen, um sie zu vertreiben – im Grunde setzen sie Gewalt als Mittel der Abschreckung ein. Wenn die Flüchtlinge und Migranten am Boden sind, schlagen sie weiter, foltern zum Spaß. Gebrochene Knochen, sexueller Missbrauch, Drohungen mit Waffen, sie schießen mit Gewehren über ihre Köpfe hinweg, usw. Es gab Situationen, in denen Menschen gezwungen wurden, sich nackt auszuziehen, an Bäume gefesselt und dann mit Stöcken missbraucht wurden. Das sind sadistische Praktiken, es ist furchtbar. Im Winter kommt es häufig zu Unterkühlungen und Erfrierungen. Den Aussagen der Migranten zufolge zwangen die Polizisten die Menschen, ihre Schuhe auszuziehen, und ließen sie barfuß zurücklaufen. NGO-Berichten zufolge ist jeder vierte Flüchtling in irgendeiner Form von Gewalt oder Folter betroffen.

Haben Sie weitere Beweise für diese Brutalität?

Bakotin: Wie ich schon sagte haben wir eine Aufnahme von Polizisten, die Menschen brutal verprügeln. Außerdem gibt es Tausende von Berichten, die von den Flüchtlingen selbst verfasst wurden. Dazu sind viele Migranten von medizinischem Personal untersucht worden, das für renommierte Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen (MSF) arbeitet. Deren Berichte bestätigen die Aussagen der Flüchtlinge und Migranten. Zudem stimmen die von den Ärzten festgestellten Wunden mit denen überein, die durch die Waffen der Polizei zugefügt wurden. Auf zynische Weise behauptet die Polizei, die Videos seien gefälscht und das Blut sei nur Fruchtsaft, um die Beamten zu verunglimpfen. Das ist nicht wahr. Auch haben uns mehrere Polizisten bestätigt, dass Gewalt eine akzeptierte Praxis ist. Natürlich würde das niemand zu Protokoll geben, weil sie dann sofort ihren Job verlieren würden.