Interview: Jerko Bakotin über Pushbacks an der EU-Außengrenze
Das Ausmaß ist viel extremer, als ich dachte. Sie meinen, dass den Flüchtenden auch ihr Hab und Gut weggenommen wird?
Bakotin: Ja, das ist gängige Praxis. Die Polizei macht das, damit die Flüchtlinge es nicht so leicht haben, es wieder zu versuchen. Ohne Ausrüstung und GPS ist das verdammt schwierig. Sie nehmen ihnen auch das Geld weg, damit sie Probleme haben, die Schmuggler, die sie über die Grenze bringen, wieder zu bezahlen. Ich bekam einen Tipp von Einheimischen aus der Gemeinde Donji Lapac, die an der bosnisch-kroatischen Grenze liegt. Sie sagten, dass die Polizei die Migranten in der Regel zu ihrem örtlichen Schrottplatz bringt und dass man hinterher schwarzen Rauch von dort sehen konnte. Wir fuhren also zum Schrottplatz und fanden große Haufen verbrannter Sachen von den Flüchtlingen – Schlafsäcke, Rucksäcke, viele Handys und Powerbanks, in Indien oder Nepal hergestellte Medikamente.
Warum tut die Polizei so etwas? Ist das ein direkter Befehl von ganz oben?
Bakotin: Wir haben mit allen möglichen Leuten in verantwortlichen Positionen gesprochen, nur natürlich streiten es alle ab. Aber dass hohe Stellen involviert sind, kommt immer wieder zum Vorschein. Die Tatsache, dass es Zehntausende von Pushbacks und Tausende von Berichten über Gewalttaten gibt, zeigt, dass es sich um eine systematische Praxis handelt. Ich glaube nicht, dass jemand diese Art von Verhalten angeordnet hat, aber es ist nicht möglich, dass dies ohne das Wissen der Polizeidirektion und des zuständigen Ministers geschieht. Wenn man bedenkt, wie wichtig dieses Thema für Kroatien ist – wenn man bedenkt, dass es die Priorität dieser Regierung ist, dem Schengen-Raum beizutreten – dann ist es fast 100-prozentig sicher, dass auch der Premierminister Andrej Plenković weiß, was vor sich geht. Die Gewalt wird dabei angeordnet, geduldet und gewünscht, denn sie soll die Flüchtenden abschrecken. Sie sagen: randaliert ruhig, es wird euch sowieso niemand anzeigen. Die Tatsache, dass fast niemand dafür bestraft wurde, zeigt, dass das System solche Gewalt gerne toleriert.
Warum passiert das im Jahr 2022 immer noch? Warum unternimmt niemand etwas dagegen?
Bakotin: Das ist die direkte Folge der Grenzpolitik der EU und der Politik ihrer wichtigsten Mitgliedsstaaten wie Deutschland. Im Jahr 2018 gab es bereits viele Berichte über schreckliche Gewalt an der kroatischen Grenze, doch als Angela Merkel dazu befragt wurde, antwortete sie, dass sie an der kroatischen Polizei „nichts zu kritisieren“ habe, da diese „die Grenze auf die richtige Weise schützt“. Auch 2020 wiederholte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer ihre Worte und lobte die Arbeit der kroatischen Polizei. Im September 2021 feierte die kroatische Interventionspolizei ihr 20-jähriges Bestehen, und zu den Feierlichkeiten lud sie auch den Chef der deutschen Interventionspolizei Andreas Backhoff ein, der ebenfalls viele freundliche Worte für seine kroatischen Kollegen fand.
Ich würde sagen, es steht außer Frage, dass die Politiker in den Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten oder in Brüssel nicht wissen, was an den Grenzen geschieht. Diese Entwicklungen sind das direkte Ergebnis ihrer Grenzpolitik der „Festung Europa“. Ich würde auch vermuten, dass dies auch mit den Entwicklungen in der deutschen politischen Szene zu tun hat. Merkel war 2016 durch den Aufstieg der AfD verängstigt und beschloss, dem mit einer viel härteren Gangart gegenüber Migranten und Flüchtlingen zu begegnen. Erinnert sei auch an den recht fragwürdigen Flüchtlingsdeal mit der Türkei.
Ist Kroatien das „schwarze Schaf“ der EU-Außengrenze?
Bakotin: Kroatien hat etwas getan, was im letzten Jahrzehnt nur Russland und die Türkei getan haben. Kroatien hat die Veröffentlichung des Ausschusses zur Verhütung von Folter des Europarats blockiert. Im vergangenen Dezember wurde der Bericht dennoch veröffentlicht, zum ersten Mal in der Geschichte des CPT ohne die Zustimmung des Landes, mit dem es zu tun hat.
Aus dem Bericht geht hervor, dass in 18 Tagen im Juli und August 2020 von der Polizeistation Korenica 2.373 Pushbacks durchgeführt wurden. Gleichzeitig verzeichnete diese Polizeistation in ihren offiziellen Akten nur zehn (!) Migranten und Flüchtlinge, die die Grenze illegal überschritten. Die logische Schlussfolgerung ist, dass der Rest von ihnen unter Missachtung des gesetzlichen Verfahrens zurückgewiesen wurde. Auch deckt die Polizeistation in Korenica nur 33 Kilometer Grenze ab, während die Grenze zwischen Kroatien und Bosnien mehr als 900 Kilometer lang ist.
Aber entlang der gesamten EU-Außengrenze werden täglich Menschenrechtsverletzungen begangen. Sie sind systematisch und vorsätzlich. Das Gleiche oder sehr ähnliche Dinge passieren auch an den griechischen, rumänischen und bulgarischen Grenzen. Die EU ist ein heuchlerischer Haufen, sie reden immer von den ach so heiligen Menschenrechten. Aber das gilt nur für EU-Bürger. Wenn man von woanders kommt und bei uns Hilfe sucht, ist der ganze Kodex plötzlich vergessen. Für mich ist das falsch, es wird ein falsches Bild projiziert. Die Art und Weise, wie die EU mit diesen Menschen umgeht, ist grausam.
Natürlich können wir jetzt auch einen großen Unterschied in der Behandlung von Flüchtlingen aus der Ukraine im Vergleich zu denen aus Afghanistan, Syrien, Libyen oder anderen afrikanischen und asiatischen Ländern feststellen. Es ist schwer, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass der Grund für diesen Unterschied Rassismus gegenüber den Menschen ist, die oft nicht weiß und oft Muslime sind.
Glauben Sie, dass sich das ändern wird?
Bakotin: Das wird sich nicht ändern, solange die EU und ihre wichtigsten Länder ihre Politik nicht ändern. Wie ich schon sagte, ist die EU an der Vertuschung der Gewalt beteiligt. Das konnte man sehr deutlich an der Art und Weise sehen, wie die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, auf die Veröffentlichung unserer Untersuchung reagiert hat.
Die einzige Möglichkeit, diese Politik zu ändern, besteht darin, der Öffentlichkeit deutlich zu zeigen, was vor sich geht. Und dann zu hoffen, dass die Öffentlichkeit Druck auf die Politiker ausübt. Damit meine ich Politiker in Deutschland, Frankreich, Brüssel und anderen wichtigen Entscheidungszentren. Ich wiederhole, dies ist keine kroatische Grenzpolitik – oder eine griechische oder bulgarische. Kroatien setzt sie natürlich um, und es sind unsere Polizeikräfte, die diese Verbrechen begehen, aber dies geschieht in Abstimmung, mit Wissen und Segen der EU, Deutschlands und anderer. Kroatien kann das Migrationsproblem der EU nicht allein lösen, selbst wenn es das wollte. Im Grunde machen wir also den Drecksjob für die EU.
Ein weiteres Problem ist, dass ich und viele meiner Kollegen schon seit Jahren darüber berichten und sich viele Menschen daran gewöhnt haben. Die Menschen wissen von der Gewalt an der Grenze, aber sie haben dringendere Probleme. Vor allem jetzt, wo der Krieg in der Ukraine ganz Europa in eine tiefe Rezession zu stürzen droht, fürchte ich, dass sich nur sehr wenige Menschen für die Gewalt an den Grenzen interessieren werden.
(Das Interview wurde auf Englisch geführt und anschließend ins Deutsche übersetzt)
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Bildquelle: Ladislav Tomicic