Kerem-Schamberger-Türkei

„Stellt euch vor, Kampfjets würden den Bundestag bombardieren“

War es abzusehen, dass ein Ereignis wie dieses stattfinden wird?

Ich war schon überrascht, dass so etwas 2016 noch passieren kann. Das spricht natürlich auch Bände über die aktuelle Situation in der Türkei. Ich meine, stellt euch mal vor, Kampfjets würden auf einmal über den Bundestag fliegen und diesen bombardieren! Aber der eigentliche Putsch in der Türkei findet seit dem 7. Juni des letzten Jahres statt, da begannen die Wahlen. Erdogan und seine AKP-Regierung haben die Wahlergebnisse nicht anerkannt, weil sie nicht die absolute Mehrheit erreicht hatten – daraufhin wurden neue Wahlen ausgerufen, das war am 1. November 2015. In der Zwischenzeit fingen sie einen massiven Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung an. Deshalb sprechen viele Analysten von einem “zivilen Putsch”, der schon letztes Jahr begonnen hat. Der Militärputsch war nur eine Folge dessen.

Wie ist die Stimmung unter den jungen Türken gerade?

Man kann nicht von der Stimmung der jungen Türken sprechen. Das kommt ganz darauf an, wie man politisch tickt. Die Menschen, mit denen ich in der Türkei telefoniert habe, sind sehr besorgt und fragen sich, was mit dem Land nun geschehen wird. Mit AKP-Verfechtern habe ich nicht gesprochen – außer die Beschimpfungen, die ich auf Facebook bekomme, zählen als Gespräch.

Es ist kein Geheimnis, dass regierungskritische Presse in der Türkei Mangelware ist. Woher beziehst du deine Informationen?

Soziale Netzwerke sind auf jeden Fall wichtig, wobei man da natürlich sehr vorsichtig sein muss, welchen Beiträgen man vertrauen kann. Ich habe außerdem den Vorteil, dass ich viele Freunde und Bekannte vor Ort habe, die mich mit News versorgen und mir auch mal Bilder schicken können.

Die Militärs haben in ihrer Erklärung betont, dass sie durch den Putsch die Demokratie wieder herstellen wollen. Was sagst du dazu?

Die Demokratie in der Türkei wurde schon seit dem 7. Juni letzten Jahres massiv untergraben. Im Moment geht es nur darum, wer an der Spitze eines eh schon antidemokratischen Staates steht, denn Erdogan als Demokraten darzustellen, wäre absolut falsch. Abgesehen davon war es in der Geschichte von Putschversuchen, egal wo, immer schon so, dass das Militär behauptete, die Demokratie wieder herstellen zu wollen.

Andere Quellen sagen wiederum, dass der Putsch eine False Flag Aktion war, mit der Erdogan seine Macht stärken wollte.

Daran glaube ich nicht. Das wäre zu riskant und zu aufwändig gewesen. Allerdings bin ich mir sicher, dass der türkische Geheimdienst und die Regierung Bescheid wussten, dass es Putschpläne gab – und die Putschisten ins offene Messer hat laufen lassen. Jetzt hat die Regierung freie Hand. Erdogan hat in kürzester Zeit 25 Prozent aller Richter in der Türkei entlassen, außerdem Zehntausende Lehrer, diverse Online-Nachrichtenseiten wurden gesperrt. Zwei, drei Stunden nach dem Putsch haben die staatlichen Nachrichtenagenturen Namenslisten der putschenden Soldaten veröffentlicht – während der Putsch noch in vollem Gange war. Sie waren auf jeden Fall darauf vorbereitet.

Wie ordnest du diesen Putschversuch ein?

Der Putschversuch ist zwar schon ein einschneidendes Ereignis, allerdings passiert in der letzten Zeit so unglaublich viel in der Türkei, dass der Putsch auf gewisse Art und Weise auch nur ein Glied in einer sehr langen Kette von krassen Begebenheiten ist. Anschläge in Suruç, in Ankara, in Istanbul – man stumpft dadurch ziemlich ab.

Verändert sich dadurch auch das alltägliche Leben in der Türkei?

Auf jeden Fall. Ich habe Freunde in kurdischen Gebieten, die ihr Leben viel bewusster gestalten – weil sie wissen, dass jeden Tag etwas Schlimmes passieren kann. Man verabschiedet sich so, als könnte es auch das letzte Mal sein, dass man sich sieht. Für uns im friedvollen München hört sich das furchtbar an. Dort ist das schlicht Realität.

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Bildquelle: privat