Kommunikation: „Hörst du mir überhaupt noch zu?“
Von Agnes von Laffert
Neulich stieß ich beim Ausmisten auf Michael Endes Jugendbuch „Momo“ und erinnerte mich an eine Stelle, die mich als kleines Mädchen tief beeindruckt zurückgelassen hatte, aber erst jetzt mein Leben veränderte – zumindest ein bisschen. Diese Stelle geht so: „Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Was Momo kann, das schaffe ich schon längst. Und ich werde es beweisen – ein Selbstversuch im Zuhören.
„Hörst du mir überhaupt noch zu?“
Ein wundervoller Sommerabend, ich sitze mit einer Freundin in unserer Lieblingsbar. Wir stoßen an, sie beginnt von ihrem Tag zu erzählen. Perfekt, es kann losgehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie sich nach diesem Gespräch dank meines offenen Ohrs so frei und mutig fühlen wird, wie noch nie – obwohl sie ein schüchterner Mensch ist.
Erst läuft alles nach Plan. Ich bin kurz davor, mir im Geiste auf die Schulter zu klopfen, diesen Selbstversuch als komplett überflüssig abzutun – und mich selbstzufrieden als Reinkarnation Momos zu fühlen. Dann stimmt die Live-Band ein neues Lied an. Mein Fuß beginnt, wie von alleine, im Takt zur Musik zu wippen. Der Song reißt mich gedanklich weg von meiner Freundin – und nimmt mich mit in völlig andere Sphären. Schon spüre ich, wie mich eine wohlbekannte Nostalgie in ihre Arme schließt und in unwiderstehlich warme Erinnerungen hüllt. „Wir haben Flügel, schwör’n uns ewige Treue,
vergolden uns diesen Tag.“ „Ein Hoch auf uns“ von Andreas Bourani. Love that one. Der Song wurde auf meinem Abiball gespielt. Wie es wohl den ehemaligen Klassenkameraden geht? Manche würde ich gerne mal wieder sehen. Oh, und wenn Ich an die ganzen Lehrer denke, die hatten es manchmal nicht leicht mit uns. Ich weiß noch, das eine Mal, als… – „Wieso grinst du jetzt so komisch? Hörst du mir überhaupt noch zu?“ Meine Freundin reißt mich aus meinen Gedanken. Da ist sie wieder, die Realität – und mit ihr meine wohl doch noch nicht so vollkommenen Zuhör-Künste.
„Äh, ‚tschuldige, was hast du gefragt?“
Zwei Tage später, Restaurantbesuch mit einer größeren Gruppe. Zunächst reden alle durcheinander, bis sich zwei oder drei finden und in ein Gespräch vertiefen. So auch meine Sitznachbarin und ich. Mit Freuden öffnet sich mein gespanntes Zuhörerherz. Dann fällt am Nachbartisch ganz deutlich mein Name. Ab diesem Zeitpunkt wankt meine Aufmerksamkeit wie betrunken von einem Tisch zum anderen und schafft es dabei nicht, sich irgendwo richtig festzuhalten. Rein physisch sitze ich zwar immer noch hier und meine Miene täuscht volles Interesse vor: Ich nicke gelegentlich und werfe ab und zu bestätigend ein automatisiertes ‚Achso, okay’ ein. Gedanklich bin ich aber längst nur noch mit halbem Ohr bei der Sache, während der anderen Hälfte mehr daran gelegen ist, Gesprächsfetzen vom Nebentisch einzufangen. Was reden die da bloß? Bald schwirrt mir der Kopf dank des zwanghaften Bemühens, möglichst viel aus beiden Unterhaltungen parallel aufzusaugen. Wirkliche Zusammenhänge kriege ich, trotz aller Anstrengung, natürlich nicht mit. Schließlich muss ich mir Scheitern eingestehen – schon wieder. Denn als Reinkarnation Momos würde ich mich spätestens ab dem Moment nicht mehr zu bezeichnen wagen, in dem ich mich sagen höre: „Äh, ‚tschuldige, was hast du gefragt? Hab das gerade akustisch nicht verstanden.“
Zuhören lohnt sich – mehr als du denkst
Trotz dieser frustrierenden Ergebnisse gebe ich nicht auf. Den großen Aha-Moment hätte ich am wenigstens erwartet, als ich auf meinem Weg zur Arbeit einem Bekannten begegne, der bekannt dafür ist, immer mit bewundernswerter Ausdauer von seiner tragischen Fernbeziehung zu erzählen. Innerlich stöhne ich auf, doch bevor ich – mich wie sonst immer – verstecken kann, winkt er fröhlich in meine Richtung. Ein Gespräch, und somit ein neuer Selbsttest, sind unvermeidlich. Ich höre zu, diesmal wirklich, blende Autolärm und Hundegebell aus, und – es lohnt sich: Meine Augen werden größer und größer, mein Interesse echter und echter. Plötzlich finde ich mich in einer aufgeregten Debatte über die Präsidentschaftswahlen in den USA wieder und erfahre Dinge über Hillary Clinton, die mir Donald Trump fast sympathisch erscheinen lassen. Nach dem Gespräch fühle ich mich schlauer als davor und frage mich, wie viele solcher Unterhaltungen ich dank meiner Versteckspiele wohl schon verpasst habe. Und die Fernbeziehung? Die wurde nur am Rande erwähnt.
Von schlechten Zuhörern
Je mehr ich auf mein eigenes Zuhör-Verhalten achte, desto mehr auch auf das der Menschen, die mich umgeben. Und da beobachte ich zwei Extreme: Ich habe da diese eine Freundin. Regelmäßig suche ich guten Willens das Gespräch, das meist voller Euphorie mit ihrem von mir gutgläubig ernstgenommenen „Wie geht’s dir?“ beginnt. Schnell verliert es aber, proportional zu der steigenden Anzahl ihrer Blicke zu ihrer Umgebung oder verstohlen auf das Smartphonedisplay –an Reiz. Um den letzten Rest ihrer Aufmerksamkeit nicht zu verlieren, beginne ich mit den Armen zu rudern und bringe alle Anstrengung auf, wegen der die immer wilderen Ausschmückungen, die ich meinen Geschichten andichte, nicht selbst zweifelnd die Augenbrauen hochzuziehen. Meine Redegeschwindigkeit ließe inzwischen jeden gestressten Fußballkommentator vor Neid erblassen und so atmen wir beide gleichermaßen auf, als ich schließlich zum Schluss komme: Endlich ist sie dran. Dabei sind meine Erzählungen nicht schlecht, sie bedürften der Ausschmückung gar nicht. Mal sind sie ernst, manchmal sogar richtig lustig.
Die Reinkarnation Momos
Nur die wirklich wichtigen Dinge, die Herzensangelegenheiten und Lebensvorstellungen, die lasse ich dieser Freundin gegenüber oft aus. Sie sind mir zu schade, um unbeachtet fallen gelassen und von ihrem Nicht-Interesse gedankenlos zertreten zu sehen. Für diese Dinge habe ich einen anderen Freund – den Zuhör-Streber, das Naturtalent, den almost Momo. Seine Aufmerksamkeit ist gänzlich ungezwungen, sein Interesse echt. Er fragt immer wieder nach. Das Schönste daran ist: Er fiebert mit – ganz egal, ob wir über das alte Testament diskutieren oder Rezepte austauschen. Erzähle Ich von etwas, das mich selbst begeistert und glücklich macht, glänzen seine Augen beim Zuhören fast mehr als ich es meinen eigenen beim Reden zutraue. Macht mich etwas wütend, nimmt er an den richtigen Stellen einen empörten Gesichtsausdruck an und zwar nicht, um mich zufrieden zu stellen, nein, weil er mir in diesem Moment uneingeschränkt zuhört. Genau wie Momo ist er einer der Menschen, zu denen alle gerne kommen. Weil er es schafft, jedem das unbezahlbare Gefühl zu geben, das wir Menschen ab und zu dringend brauchen: Ihm etwas zu bedeuten.
Geben und Nehmen
Zuhören – dachte ich früher – was kann man dabei schon falsch machen? Doch richtiges Zuhören ist gar nicht so leicht und erfordert einiges an Willen. Außer man ist das gerade beschriebene Naturtalent – oder Momo selbst. Hat man es aber einmal geschafft, sind die Folgen nicht ganz uneigennützig. Denn: Kommunikation ist ein Geben und Nehmen – je mehr ich mich für eine andere Person interessiere, desto lieber schenkt diese in der Regel auch mir ihre volle Aufmerksamkeit. Also: Einfach mal beim nächsten Treffen mit dem besten Freund/der Kollegin/der Mutter uneingeschränkt da sein. Und ausnahmsweise auch dem Redeschwall des Onkels/der Tante/des Briefträgers, den man sonst immer nur so ungern über sich ergehen lässt, bewusst zuhören. Denn wer weiß, vielleicht verbergen sich dahinter die spannendsten Geschichten.
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Bildquelle: Priscilla Westra unter CC0 Lizenz