Sebastian Schramm Krebs Kolumne

Fürs Erste Krebs: Episode #4

Eine Nachricht auf der Mailbox

 

Ungefähr auf Höhe von Rostock, um 12:02 Uhr, blicke ich auf mein Handy. Eine mir unbekannte Nummer mit Schweriner Vorwahl hat eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Die Arbeit sicherlich, wegen der Krankschreibung. Ich höre trotzdem ab, obwohl ich keine Lust habe. „Herr Schramm“, sagt Barbara Engel. Ich erkenne ihre Stimme und zucke zusammen. „Rufen Sie mich sofort zurück.“ Nach zwei erfolglosen Versuchen habe ich sie am Telefon.

„Sie müssen sofort ins Krankenhaus.“
„Wie bitte?“
„Das alles geht schon viel zu lange. Ihnen muss Knochenmark entnommen werden. Und Gewebe. Wo sind Sie jetzt?“
Keine Reaktion. Nichts bringe ich hervor. Jede Sekunde wird endlos, alles läuft in Zeitlupe. Was passiert hier gerade? Und warum klingt Engel so ernst? Da ist kein Optimismus. Sie klingt besorgt, nicht mehr so sachlich wie noch vor zwei Tagen. Auch so löst man Gleichungen.
„Ich bin schon fast in Stralsund.“
„Gut. Dann fahren Sie morgen zurück nach Schwerin ins Krankenhaus.“
„Okay.“
„Melden Sie sich dort bitte auf Station M5. Ich habe Ihnen dort ein Bett besorgt.“
„Ja, okay.“
„Können Sie auch etwas anderes sagen außer Okay?“

Ich bin nicht mehr in der Lage, in ganzen Sätzen zu sprechen. Ich lege auf, meine Eltern schauen mich erwartungsvoll an. „Und?“ „Ich muss morgen in die Klinik“, stammle ich. Es sind die letzten Worte, die wir wechseln, bis wir in Stralsund sind. Über 60 Minuten Stille.

 

Die Klaviatur ist beschränkt

 

Mein Kopf spielt verrückt. Jeder Gedanke dreht sich um das Ende. Zum ersten Mal in meinem Leben ist meine Klaviatur beschränkt. Hell, schön und klar gibt es nicht mehr. Nur noch dunkel, tief und absurd. Ich bin ohnmächtig, kann all das nicht verhindern. Niemand kann mir helfen. Willst Du in einen Sarg oder in eine Urne? Stralsund wäre schön. Und sie sollen zum Abschied etwas von meinem Lieblingskomponisten spielen. Ludovico Einaudi; Giorni oder Nuvole bianchi. Muss ich das vorher noch aufschreiben? Ich fühle mich wie angekettet. Alles endet in Hoffnungslosigkeit. Es ist ein widerliches Gefühl: Ich will weg, aber ich laufe ein Rennen, das ich nicht gewinnen kann.
Zu Hause verkrieche ich mich ins Bett, ich will schlafen, um den Schmerz für ein paar Momente zu besiegen. Doch Stille und Dunkelheit machen alles nur noch schlimmer. Länger als zwei Stunden halte ich es nicht aus. Im Fernsehen läuft King of Queens, eine meiner Lieblingsserien. Gags im Minutentakt. Ich wünschte, ich könnte über Doug und Carrie lachen. So wie sonst auch, als ich gesund war und glücklich. Jetzt wäre es schon ein Fortschritt, würfe mein Gesicht mechanisch ein Lachen ab, ähnlich dem eingespielten Gelächter der Serie. Aber ich spüre nichts. Nur eine ausfüllende Leere. Irgendwann reißt mich Mama aus den Gedanken. Sie will los, zum Arzt, sich krankschreiben lassen, damit sie für mich da sein kann, und noch etwas einkaufen. „Basti, soll ich Dir etwas mitbringen?“ „Ja, so eine räudige Tiefkühlpizza.“ Sie erschrickt. Seit Jahren hatte sie mich so etwas nicht mehr essen gesehen. Und ich mit ihr.

Nach anderthalb Stunden ist sie wieder da. Für die nächsten zwei Wochen ist sie zu Hause. Mama kam sich blöd vor, um eine Krankschreibung zu bitten, zumal es nicht mal um sie ging und sie äußerlich nicht krank ist. Jedes Zeichen von Schwäche ist ihr zuwider, vor ihr selbst, vor anderen, jetzt vor allem vor mir. Ihr Ruhepuls beim Arzt war dreistellig, 110. An Arbeit wäre sowieso nicht zu denken gewesen, erklärte er ihr.

Die Peperoni-Pizza schmeckt erbärmlich. Mein Magen knurrt, aber nach zwei Stücken kann ich nicht mehr essen. Mein Hals ist zugeschnürt. Mittlerweile spielt Dortmund gegen Liverpool, Europa League. Ich verfolge das Spiel, aber es ist mir egal. Fußball, mein Sport, meine Leidenschaft; er löst nichts in mir aus.

Um zehn kapituliere ich und lege mich ins Bett. Ohne ein Hilfsmittel geht es nicht, Beruhigungstropfen, der Arzt hatte Mama etwas mitgegeben. Ich schlafe ein, um immer wieder aufzuwachen, das ganze Bett ist nass, ich höre nicht mehr auf zu schwitzen, ein Begleitsymptom der Krankheit, wie mir die Ärzte später erklären werden. Gegen sieben weckt mich Mama. Bevor ich aufstehe, streichelt sie mir über meine Wange. „Hab keine Angst, wir schaffen das.“ Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben kann.